Herr Goeke, woran arbeiten Sie gerade?

Das Problem: Soziale Ordnung
Ich bearbeite mehrere Themen, aber nur ein Problem. Im Grunde wundere und frage ich mich, wie soziale Ordnung in der modernen, funktional differenzierten Weltgesellschaft trotz Vielfalt und Unübersichtlichkeit möglich ist und welche strukturellen Veränderungen sich gegenwärtig - insbesondere im Zusammenhang mit der Einführung des Computers und seiner Derivate - abzeichnen. Im Unterschiede zu dieser allgemeinen soziologischen Frage interessiert mich dabei zusätzlich, welche Bedeutung Raum beim Strukturaufbau der Gesellschaft zukommt.

Die Themen: Kooperation und Koordination
Das Problem sozialer Ordnung untersuche ich an den Beispielen von drei Projekten, die ich für zukunftsweisend halte. Dabei handelt es sich um das Frankfurter Ehrenamtprojekt StadtteilBotschafter, das Nürnberger Bildungsprojekt Azubis begleiten Schüler sowie Formationen im Bereich der Kreativwirtschaft. Immer geht es dabei um die Frage, wie Kooperation und Koordination angesichts sehr unterschiedlicher Interessen und Fähigkeiten möglich sind und in welchen Strukturen Ehrenamt, Bildungsarbeit oder wirtschaftlicher Erfolg am besten gelingt.
Dazu muss man wissen, dass die moderne stark ausdifferenzierte Gesellschaft dem Einzelnen sehr repulsiv und widersprüchlich erscheint. Konkret formuliert: Schülerinnen und Schüler kapitulieren oft vor der Ausbildungs- und Berufswahl; junge Menschen wollen sich ehrenamtlich engagieren, schrecken aber vor den starren Vereinsstrukturen mit hohem Verpflichtungscharakter zurück oder hadern mit bürokratischen Strukturen. Künstler und Kreative sympathisieren mit den Idealen der Kunst, die nur Kunst sein möchte, und müssen diese mit ökonomischen Logiken verbinden.

Die Theorie: Systemtheorie und Projekt-Netzwerke
Mit Blick auf das Problem der sozialen Ordnung gehe ich aktuell davon aus, dass Netzwerk-Projekte oder Projekt-Netzwerke die Strukturen der Nächsten Gesellschaft maßgeblich beeinflussen werden - so wie heute funktionale Differenzierung und Organisationen bestimmend sind. Projekt stellt auf die Einmaligkeit und Begrenztheit vieler Aufgaben ab und Netzwerk macht darauf aufmerksam, dass sich zuvor ausdifferenzierte Einheiten zur Bearbeitung eines Projektes zusammenfinden und ihre Expertise einbringen. Die heterarchischen Projekt-Netzwerke unterscheiden sich dabei deutlich von bekannten hierarchischen Organisationsstrukturen. Ein Beispiel: Bei den Frankfurter StadtteilBotschaftern werden junge Erwachsene mit einem in Deutschland einmaligen Stipendium für 18 Monate gefördert. Ihre Aufgabe ist es, ein selbstentwickeltes gemeinnütziges Projekt (z.B. ein Sportfest, ein Fotoprojekt oder ein Generationentreff) von der Idee bis zum Produkt zu gestalten. Dabei werden sie von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft unterstützt und begleitet und müssen sich überdies mit bereits etablierten Institutionen im Stadtteil absprechen. Alle Beteiligten lassen sich dabei auf einen wechselseitigen Abhängigkeitsprozess mit gegenseitigen Kontrollfunktionen ein.
Theorie und Begriffe zur Bearbeitung dieser Fragen werden im Wesentlichen von der Systemtheorie gestellt. Insbesondere Niklas Luhmann ist es gelungen, Begriff so klar zu explizieren und aufeinander zu beziehen, dass ihre Schärfen und ihre Unzulänglichkeiten immer zu erkennen sind. Diese Grundlagen werden besonders von den Arbeiten und Stichworten Dirk Baeckers zur Nächsten Gesellschaft ergänzt.
Mit Blick auf die Geographie bewege ich mich damit in einem Arbeitszusammenhang, der insgesamt danach strebt, das Auflösungs- und Rekombinationsvermögen der Systemtheorie anhand von theoretischen und empirischen Arbeiten für die Geographie fruchtbar zu machen und ihr so sachlich und disziplinär erweiterte konzeptionelle Möglichkeiten zu eröffnen.

Biographisches
Die Disziplinen Geographie, Soziologie und Kommunikationswissenschaften ebneten mir den Weg in die Wissenschaft, ehe ein Stipendium des DFG-Graduiertenkollegs ‚Migration im modernen Europa' es mir ermöglichte, mit einer Arbeit zu Transnationalen Migrationen in der Weltgesellschaft promoviert zu werden. Anschließend arbeitete ich am Institut für Humangeographie in Frankfurt und heute bin ich am Geographischen Institut der Universität Zürich in der Abteilung Wirtschaftsgeographie tätig. Neben der akademischen Tätigkeit bin ich darauf bedacht, mein Wissen in die Praxis zu transferieren, respektive in dieser Praxis zu lernen. Meine Aktivitäten als wissenschaftlicher Begleiter und Berater von Integrations-, Bildungs- und Ehrenamtsprojekten sind Ausdruck dieser Bemühungen. Ein wichtiger Bestandteil meines Projekt-Netzwerkes ist das von der DFG geförderte Netzwerk ‚Systemtheoretische Geographie' in dessen Umfeld eine Reihe von systemtheoretischen Arbeiten entstehen.

Lebenslauf

* 1976
1996-2002: Studium der Geographie (Diplom) mit den Nebenfächern Soziologie, BWL/VWL und Kommunikationswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, der Katholischen Universität Eichstätt und der University of Nottingham (UK)
2002-2004: Stipendiat im DFG-Graduiertenkolleg ›Migration im modernen Europa‹ am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück
2006: Promotion zum Thema „Transnationale Migrationen. Post-jugoslawische Biografien in der Weltgesellschaft“, Universität Osnabrück
2004-2010: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Humangeographie, Frankfurt
seit 2010: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie, Zürich
Forschungsschwerpunkte: Migration und Integration, Systemtheorie, Projekt-Netzwerke
Sonstige Tätigkeiten: Wissenschaftliche Begleitung und Beratung von Integrations-, Bildungs- und Ehrenamtsprojekten in Nürnberg und Frankfurt


Kontakt:
Dr. Pascal Goeke
Senior Teaching and Research Associate
Economic Geography Unit
Department of Geography
University of Zurich - Irchel
Winterthurerstr. 190
CH-8057 Zurich, Switzerland
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tel:+41-44-6355245