Frank Meyer: Die Städte der vier Kulturen.Eine Geographie der Zugehörigkeit und Ausgrenzung am Beispiel von Ceuta und Melilla (Spanien/Nordafrika). Stuttgart 2005 (Erdkundliches Wissen 139). 318 S.

Die spanischen Exklaven auf nordafrikanischem Boden bündeln wie in einem Brennglas die Chancen und Konflikte einer multikulturellen Kommunität an der Nahtstelle zwischen zwei jeweils dominant ausgeprägten Kulturräumen. Der konkrete Untersuchungsansatz besteht in der Frage nach der Selbstwahrnehmung kulturell eigenständiger Gruppen bzw. der Ausgrenzung der jeweils als „anders“ empfundenen Bevölkerungsteile.

Die Formulierung „Städte der vier Kulturen“ greift eine auf Außenwahrnehmung bedachte Selbst-Etikettierung der Stadt Ceuta auf, welche die "convivencia", also die gelebte wechselseitige Toleranz von Christen, Muslimen, Juden und Hindus suggeriert. Insofern wecken allein die Auswahl dieses Untersuchungsobjektes und die daraus abgeleitete Fragestellung hohe Erwartungen. Die Operationalisierung ist alles andere als einfach. Selbst vermeintlich einfache Attribute wie die Religionszugehörigkeit sind amtlicherseits nicht quantifizierbar. Der Verfasser stützt sich deshalb im Wesentlichen auf qualitative Methoden empirischer Sozialforschung. In einem reflexiv-diskursiven Prozess wird das theoretische begriffliche Instrumentarium aus alltagsweltlichen Begriffen extrahiert. Die empirische Bearbeitung der Problematik stützt sich auf den Begriff der „kollektiven Identität“ im rekonstruktiven Sinne.

Die mit hohem empirischen Aufwand zusammengetragenen Analyse-Bausteine formieren sich schließlich zu einem detailreich differenzierten, in der Summe aber ernüchternden Gesamtergebnis: Anstelle eines idealtypischen, respektvollen Zusammenlebens von vier „Kulturen“ besteht die alltagsweltliche Praxis in einer vordergründigen Reduktion der jeweiligen Wir-Identität auf die religiöse Konfession. Daraus wird in einem zweiten Schritt eine eigenständige „Kultur“ im Sinne von Traditionen, Wertehierarchien und Verhaltensweisen abgeleitet, die ihre Identität in der Realität durch die Ab- und Ausgrenzung gegenüber „den Anderen“ schärfend verstärkt. In diesem Kontext spielen Juden bzw. Hebräer und Hindus (nicht nur quantitativ) eine nachrangige Rolle, so dass sie vom Verfasser nur „kontrastiv“ berücksichtigt werden. Realiter findet er in beiden Städten vielfältige Belege für die stabile Existenz zweier religiöskultureller Kollektive mit christlich-abendländisch bzw. islamisch-orientalisch fundierter Selbstwahrnehmung. Daraus wiederum erwachsen Konflikte und soziale Spannungen, die in beiden Städten (u.a.) in eine residenzielle Segregation von Christen (inkl. Juden bzw. Hebräern) einerseits und Muslimen andererseits mündete. Die räumliche Segregation verstärkt und festigt ihrerseits konträr besetzte „Images“. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die Wahrnehmung von „Kultur“ für die eigene kollektive Identität reduziert wird auf Elemente wie Sprache oder Traditionen, bis hin zur physiognomisch wahrnehmbaren Bausubstanz, die letztlich sämtlich einer religiösen Konfession zugeordnet werden. Bemerkenswerterweise werden real praktizierte, wechselseitige Verhaltensadaptionen im alltagsweltlichen Diskurs der jeweiligen kollektiven Identitäten aber nicht wahrgenommen bzw. bleiben unwirksam. Sie fallen den beschriebenen Mechanismen zur Aus- und Abgrenzung zum Opfer. Andererseits findet der Autor aber auch keine organisatorischen, praxisorientierten Umsetzungen als Ausdruck eines einheitlichen Wir-Bewusstseins.

 

Die Arbeit ist in den Kontext der „Neuen Kulturgeographie“ bzw. der „Neuen regionalen Geographie“ einzuordnen, deren Konzeption in der deutschsprachigen Geographie von Hans Gebhardt, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer (u.a. in den Berichten zur deutschen Landeskunde 2004) artikuliert wurde. Darin wird ein objektivistisches Wissenschaftsverständnis in Frage gestellt, regionalgeographische Befunde werden als intersubjektiv nicht überprüfbare konstruktivistische Deutungen verstanden. Die im Untertitel der vorliegenden Arbeit genannten Begriffe von Zugehörigkeit und Ausgrenzung entziehen sich demzufolge einer im strengen Sinne intersubjektiven räumlichen Projektion. Auf die Kritik an dieser Konzeption (etwa in Rezensionen von Ehlers in Heft 9/57 der Geographischen Rundschau bzw. von Helmut Klüter in Band 78 der Berichte zur deutschen Landeskunde, jeweils 2005) braucht an dieser Stelle nicht explizit eingegangen zu werden. Misst man die Arbeit aus Sicht der „traditionalistischen“ Geographie (der sich der Rezensent selbst zuordnet) an ihren Ergebnissen, so sind diese wenig spektakulär insofern, als sie die theoretisch bekannten sozialen, ökonomischen und historischen Dimensionen für Ausbildung und Existenz kollektiver Identitäten empirisch bestätigen. Die Funktion räumlicher Dimensionen, d.h. emotional-subjektive Raumwahrnehmung als konstruktives Element eines einheitlichen Wir-Bewusstseins, wird zwar unterstellt, ist aber offenkundig empirisch nicht nachweisbar. Die Arbeit ist (vor allem in der ersten Hälfte) sehr stark theoriebefrachtet und stellt keine leichte Lektüre dar. Ihr selbst gesetzter hoher Anspruch, „ … durch die Anwendung eines konstruktivistischen, diskursiven und interaktiven Kulturverständnisses auf das empirische Fallbeispiel … neue Perspektiven für die Kulturgeographie …“ (S. 282) aufzuzeigen, wird nicht wirklich eingelöst. Als konsequente empirische Umsetzung der theoretischen Konzepte der neuen Kulturgeographie kommt der Arbeit aber zweifellos Pilotcharakter zu.

Autor: Toni Breuer

 

Quelle: Die Erde, 138. Jahrgang, 2007, Heft 1, S. 23-24