Peter Niesen und Benjamin Herborth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt a.M. 2007. 464 S.

Verschiedene Theorieentwürfe von Jürgen Habermas, vor allem die Theorie des kommunikativen Handelns, Faktizität und Geltung, Überlegungen zur "postnationalen Konstellation" sowie auch unmittelbar zur Dynamik einer Weltinnenpolitik und zur möglichen Konstitutionalisierung des Völkerrechts können anregen, die aktuelle Dynamik staatlicher Institutionen, vor allem aber auch des Verhältnisses der Staaten untereinander und der politischen Verfasstheit einer entstehenden Weltgesellschaft genauer zu durchdenken und zu verstehen.

In der Teildisziplin der Internationalen Beziehungen wurde vor allem die Frage verständigungsorientierten Handelns in Abgrenzung zu (neo)realistischen Vorstellungen strikter Interessenorientierung in der internationalen Politik sowie zu Rational Choice-Ansätzen aufgegriffen und sowohl im angelsächsischen Bereich wie im Rahmen der Zeitschrift für internationale Beziehungen (ZIB) debattiert. Der vorliegende Band versucht nicht nur eine Zwischenbilanz dieser seit Anfang der 1990er Jahre laufenden Diskussion, sondern unternimmt es zugleich, sie mit weiterreichenden Überlegungen aus der Politischen Theorie und Politischen Philosophie zusammenzuführen. Habermas hat eine ausführliche abschließende Replik beigesteuert. Insgesamt geht es, wie Benjamin Herborth formuliert, darum, über "eine empiristisch verfahrende und technokratisch orientierte", "auf einen normalwissenschaftlichen Forschungsbetrieb beschränk(te)" Politikwissenschaft durch eine gesellschaftstheoretische Öffnung hinauszukommen (147f).
Zunächst einmal lässt sich mit Bezug auf die Habermassche Sprechakttheorie zwischen bargaining und arguing unterscheiden, also einerseits zwischen einer strikt interessenbezogenen Aushandlung, wobei Kompromisse geschlossen werden können, die gegenseitigen Positionen sich aber nicht verändern, sowie andererseits einem Prozess, in dem die Situationsdefinitionen der Beteiligten zur Disposition stehen und grundsätzlich veränderbar sind. Im Verlauf von Versuchen, diese begrifflichen Bestimmungen empirisch anhand internationaler Verhandlungsprozesse zu untermauern, haben sich die Positionen differenziert - auch anhand methodologischer Schwierigkeiten, etwa bei der Erhebung von Einstellungen der Beteiligten an diplomatischen Prozessen. Während eine Strömung der Debatte an einem kommunikationstheoretisch begründeten "sinnrekonstruktiven Ansatz" (Herborth, 149) festhält, haben andere wie Harald Müller und Nicole Deitelhoff eine eher institutionalistische Wende vollzogen und argumentieren mit Logiken der Angemessenheit und Verstrickung, die etwa, wie Deitelhoff anhand der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs demonstriert, Verhandelnde auf Normen und materielle Vorgehensweisen insbesondere auch im Bereich der Menschenrechte verpflichten können, denen sie zunächst allenfalls verbal zugestimmt haben. Bemerkenswerterweise ergibt sich daraus für Müller auch eine entschiedene Kritik an unilateralen Vorgehensweisen, die über Jahrzehnte gewachsene institutionelle Einhegungen zwischenstaatlicher Gewaltanwendung in Frage stellen, wie dies insbesondere im Fall des Kosovo-Krieges 1999 und im Irakkrieg 2003 geschehen ist. Ebenso bemerkenswert ist, dass Habermas auf die scharfe Kritik Müllers an seiner Rechtfertigung des Kosovo-Krieges nicht eingeht, die hier ja nicht einfach ein politisches Bekenntnis darstellt, sondern aus der Perspektive der inkrementellen Institutionalisierung von Normen und normorientiertem Verhalten in der internationalen Sphäre folgt. Zugleich unterstreichen die zahlreichen Hinweise auf die Probleme des empirischen Nachweises kommunikationsorientierten, argumentativen Verhandelns nicht nur die faktische Gemengelage unterschiedlicher Kommunikationspraxen in Verhandlungsprozessen, sondern letztlich auch die begrifflichen Schwierigkeiten, die sich nicht zuletzt aus den normativen Implikationen der Sprechakttheorie ergeben. Deren Leistungsfähigkeit erweist sich, wie Benjamin Herborth zeigt, beispielsweise an der Kritik der verbreiteten Sicherheitssemantik, wie sie Ole Wæver entwickelt hat.
Auf einer anderen Ebene bewegen sich die Beiträge, die auf die Verfasstheit des internationalen Systems selbst ausgehen, die Problematik des Regierens jenseits des Nationalstaates, der Konstitutionalisierung des Völkerrechts, der UN-Reform und letztlich der Frage, ob eine Weltrepublik möglich oder wünschbar sei. Eng damit verflochten ist die Problematik der Intervention. Hier stehen unter anderem die Möglichkeit und die Reichweite deliberativer Prozesse zur Debatte, die den Maßstäben, die u.a. auch Habermas für demokratische politische Verhältnisse formuliert hat, gerecht werden könnten. Am radikalsten stellt Ingeborg Maus unter Berufung auf Kant diese Möglichkeit in Abrede. Vielmehr untergrabe die zunehmende Delegation staatlicher Kompetenzen an supranationale Organisationen die Volkssouveränität, die die Grundlage jeglicher republikanischer Verfassung und auch als Möglichkeit selbstbestimmten politischen Lebens selbst dann zu achten sei, wenn die innere Verfasstheit eines Staates diesen Ansprüchen nicht genüge. Dem steht die pragmatische Hinnahme "politisch bedingter Willkür" gegenüber, da "die internationale Gemeinschaft über kurz oder lang [sic]" zur "Sicherung des Weltfriedens und ... Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen ... auf die freiwilligen Beiträge leistungsfähiger Staaten angewiesen bleiben" werde (Christoph Humrich, 405).
Einen eigenen Komplex bilden die Beiträge zur EU, wobei insbesondere Hauke Brunkhorsts scharfe Kritik an den Realitäten "transnationaler Klassenherrschaft" hervorzuheben ist, die er am Beispiel der Chance die mit dem Verfassungsvertrag nicht so sehr durch die gescheiterten Referenden, sondern mehr noch durch die Art und Weise seines Zustandekommens wie auch einiger Inhalte vergeben wurde ebenso erläutert wie an konkreten Beispielen der Politikdefinition außerhalb institutioneller Strukturen, etwa im Fall des für das gesamte europäische Hochschulwesen so folgenreichen Bologna-Prozesses. An solchen Fällen wird deutlich, dass die anspruchsvolle Argumentationsebene keineswegs art pour l'art ist, sondern Kriterien bereitstellt für die Kritik konkreter Prozesse und institutioneller Arrangements. Allerdings wäre in solchen Zusammenhängen die Berücksichtigung anders angelegter Erklärungsmuster, etwa des Konzeptes der transatlantischen Klasse von Kees van der Pijl von großem Interesse gewesen.
Besonders erwähnenswert ist noch der Versuch Rainer Forsts, unterschiedliche Argumentationsmuster und -ebenen zur Begründung einer "Diskurstheorie transnationaler Gerechtigkeit" zu entwickeln. In einem Gedankenexperiment, das unterschiedliche Argumentationsstrategien gegen eine als Überausbeutung verstandene gesellschaftliche Realität in den Blick nimmt, zeigt Forst u.a. die Konsequenzen der Orientierung moralischer Ansprüche auf Gerechtigkeit, aber auch auf Hilfeleistung an "Zuständen", nicht aber an "intersubjektiven Verhältnissen" auf: So ebnet die weit verbreitete erste Sichtweise den Unterschied zwischen den Folgen von Naturkatastrophen und jenen gesellschaftlicher Verhältnisse ein. Freilich dürfte die Zuschreibung eines "Hilfe- und Solidaritätsdiskurs(es)" (alles 263) allein auf die erste Perspektive im Hinblick auf mögliche Inhalte von Solidarität einer bedenklichen Engführung unterliegen.
Diese kurzen Schlaglichter sollten deutlich machen, dass dieser überaus anregende Sammelband wirklich wichtige Beiträge leistet: Er eröffnet den Blick auf eine innovative, verkrustete Argumentationsfronten aufbrechende Richtung in der Analyse der Internationalen Beziehungen, stellt die Problematik der Global Governance in einen höchst anspruchsvollen begrifflichen Rahmen und zeigt dabei wichtige potentielle Konsequenzen der unterschiedlichen begrifflichen Vorkehrungen auf und er vermittelt Argumente und Einsichten zur aktuellen Dynamik von Staatlichkeit. Nicht zuletzt kann er als Anregung zur kritischen Auseinandersetzung mit den einschlägigen Schriften von Habermas dienen.
Reinhart Kößler

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 112, S. 517-519