Felicitas Hillmann: Migration als räumliche Definitionsmacht? Beiträge zu einer neuen Geographie der Migration in Europa. Stuttgart 2007 (Erdkundliches Wissen 141). 321 S.

Transnationale Migration ist nicht nur eine Folge und Ausdruck der Globalisierung, sondern zugleich auch Motor von Prozessen der Globalisierung und der Fragmentierung. Dem Buch von Felicitas Hillmann, Bremer Professorin für Humangeographie, liegt die Annahme zu Grunde, dass sich im Zuge der beschleunigten Globalisierung seit Beginn der 1990er Jahre Migrationsprozesse in ihren Erscheinungsformen, Auswirkungen und in ihrer räumlichen Organisation verändert haben. Ziel des Buches ist es zum einen, die spezifisch geographische Dimension von Migrationen empirisch darzulegen, und zum anderen, neue Forschungshorizonte der geographischen Migrationsforschung aufzuzeigen.

Die Verfasserin hat für diese Habilitationsschrift aus ihren zahlreichen Publikationen sieben bereits veröffentlichte Aufsätze ausgewählt, in vier Themenschwerpunkten angeordnet und mit Aktualisierungen ergänzt. Anhand zahlreicher empirisch gut belegter Beispiele vollzieht sie mit ihren Überlegungen zu einer neuen Geographie der Migration und dem Konzept der räumlichen Definitionsmacht einen doppelten Perspektivenwechsel in der geographischen Migrationsforschung. Einerseits verschiebt sie den theoretischen Fokus von den bislang in der Geographie am ehesten verwendeten Ansätzen der (neo)klassischen Migrationstheorien (wie z.B. Push-Pull-Modell) zur Transnationalismus-Theorie, die das Leben von MigrantInnen im ‚Sowohl-als-auch' und ‚Zwischendrin' von grenzüberschreitenden sozialen und räumlichen Feldern aufzeigt sowie die herausragende Rolle von Netzwerken für den Migrationsprozess hervorhebt. Dabei werden aber auch konfliktbehaftete Polarisierungstendenzen offen gelegt. Andererseits soll bei der Betrachtung ebendieser fragmentierenden sozialräumlichen Entwicklungen nicht mehr ‚lediglich' die Benachteiligung, Ausgrenzung und Verwundbarkeit von MigrantInnen im Vordergrund stehen. Stattdessen rückt Hillmann die Handlungsspielräume, Veränderungs- und Gestaltungspotentiale, über welche MigrantInnen verfügen und die im Migrationsprozess immer wieder neu ausgehandelt werden, in den Mittelpunkt. Um diesen Aspekt der ‚agency' der MigrantInnen zu unterstreichen, verwendet sie das der feministisch-orientierten Stadtforschung und der postmodernen Geographie entliehene Konzept der räumlichen Definitionsmacht.
Die Autorin hat Ergebnisse aus Forschungsprojekten der letzten zehn Jahre in vier Themenfelder gebündelt, in denen sich die sozialräumlich strukturierende Wirkung von Migrationen und das beobachtbare Gestaltungspotential besonders deutlich zeigen. Bei der Migration von Hochqualifizierten (Kap. 2) wird offenkundig, wie diese Akteure als Pioniere und Hoffnungsträger wirkungsvolle Veränderungen aktiv vorantreiben können. In der Debatte um ‚brain drain/gain' zeigt sich aber auch, dass die Effekte der Wanderung dieser höchsten Ausbildungs-, Einkommens- und Statusgruppe in den Ziel- und Herkunftsländern höchst unterschiedlich ausfallen können. Am Beispiel der Hierarchisierung des europäischen Migrationsraumes (Kap. 3) verdeutlicht HILLMANN einerseits das aktuelle Ausmaß und die Bedeutung der Transnationalisierung von Migration und andererseits die bereits erkennbaren Fragmentierungstendenzen in Europa. Der europäische Migrationsraum wird nicht nur durch die spezifischen sozio-kulturellen Bedingungen der Länder Europas definiert; sowohl die Sicherheits-, Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Sozial-, Migrations- und Entwicklungspolitik auf Ebene der Europäischen Union, der EU-Staaten und der Herkunfts- und der Transitländer als auch die Netzwerke und Handlungen der Migrationsunternehmer sowie der MigrantInnen selbst strukturieren diesen Raum. Konkrete sozialräumliche Konsequenzen und krisenhafte Entwicklungen werden direkt an den EUAußengrenzen oder in den Arbeitsmärkten und Wohnvierteln der europäischen Großstädte sichtbar, wie am Beispiel der irregulären Migration aus ‚Drittstaaten' nach Italien sowie den Integrationsbemühungen von Migranten in Mailand und Berlin veranschaulicht wird. Wie ‚Geschlecht' als eine Migrationen strukturierende Kategorie (Kap. 4) wirkt, zeigt die Verfasserin hervorragend auf. So wird die Position von Migrantinnen in geschlechtsspezifischen Arbeitsmärkten in Städten, in diesem Fall die Rolle von türkisch-stämmigen Unternehmerinnen in den (ethnischen) Ökonomien Berlins, ausführlich dargelegt. Dabei wird auf Basis von Theorien zu Gender und Migration die dreifache strukturelle Benachteiligung von Migrantinnen (race, class, gender) thematisiert, aber hier insbesondere auch das soziale und kulturelle Kapital der Frauen, ihre Innovationskraft und Gestaltungspotentiale - sprich ihre räumliche Definitionsmacht - ausgearbeitet. Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt ist die Herausbildung von neuen Formen der ökonomischen Organisation durch Migration in europäische Städte (Kap. 5), wie z.B. ethnische Nischenökonomien oder Enklavenökonomien.
Zwar bestehen in dem Buch auf Grund der Aktualisierung von vorab veröffentlichten Arbeiten gewisse Sprünge und Wiederholungen, andererseits kann die Autorin dadurch vier bis zehn Jahre zuvor geäußerte Thesen bestätigen und wichtige jüngste Trends aufzeigen. Die Verfasserin erhebt nicht den Anspruch, die komplexen Ursachen und Wirkungen von Migration sowohl in den Herkunfts- als auch in den Zielländern vollständig zu erfassen. Die Charakterisierung von (Trans)Migration im Zeitalter der Globalisierung bleibt auf Grund der Vielschichtigkeit des Themas aber unvollständig, wenn der Fokus ‚nur' auf den Zielländern, insbesondere den ‚Zielstädten', liegt, die Rückkopplungen in den Transit- und Herkunftsländern aber lediglich gestreift werden.
Insgesamt gelingt es der Autorin auf beeindruckende Weise den Anspruch einer neuen geographischen Migrationsforschung, die "räumlichen Dimensionen von Migrationsprozessen und deren Wirkungsweisen in die Gesellschaft hinein zu analysieren" (S. 288), mit theoretischem und empirischem Leben zu füllen, insbesondere im Bezug auf ihren Forschungsfokus, die sozialen und räumlichen Fragmentierungen der Arbeitsmärkte in europäischen Städten und die Rolle von Migranten, und v.a. Migrantinnen, darin.
Autor: Benjamin Etzold

Quelle: Erdkunde, 63. Jahrgang, 2009, Heft 1, S. 94-95


eine weitere Rezension zu dem Buch von Felicitas Hillmann gibt es hier