Kim Clark and Marc Becker: Highland Indians and the State in Modern Ecuador. Pittsburgh 2007. 348 S.

Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit dem ungleichen und widersprüchlichen Prozess der Staatsformation in Ecuador, wobei besonders die Bedeutung der indigenen Bevölkerung hervorgehoben wird. Historisch spannt der Band einen Bogen vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum 21. Jahrhundert, wobei die Herausgeber darauf geachtet haben, eine weitgehend lückenlose Abfolge vorzulegen, die selbstverständlich keinen enzyklopädischen Charakter haben kann.
Die 14 Beiträge der 13 Autorinnen und Autoren (vorwiegend Anthropologen und Historiker aus dem USamerikanischen akademischen Feld) zeichnen sich durch einen Zugriff auf die neuere politische Anthropologie des Staates aus, der die Imagination und das alltägliche Aushandeln von Staatlichkeit, den Prozess der "Staatsformation von unten" sowie Ethnographien des Staates in den Vordergrund stellt.

Den entsprechenden theoretischen Einleitungsartikel liefern die Herausgeber des Bandes die vorschlagen, den Prozess der Staatsformation in den Dimensionen der moralischen Regulation "von oben" und den Prozessen "von unten" zu analysieren, wobei der Staat in seiner Fragmentierung und internen Widersprüchlichkeit betrachtet wird. (4) Dabei fallen das System des Staates und die Idee des Staates oftmals auseinander. In einem kurzen Überblick über die postkoloniale Staatsformation in Ecuador arbeiten die Autoren die Weiterführung der kolonialen Teilung der Gesellschaft auch in der Republik heraus, reißen Fragen von Bürgerrechten an und diskutieren regionale Ungleichheiten der Staatsformation.
Im zweiten Beitrag diskutiert Aleezé Sattar das Verhältnis von indigenen Gemeinden und republikanischem Gesetzeskörper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sattar arbeitet mit Rückgriff auf postkoloniale Ansätze heraus, dass es sich um einen doppelt "gegabelten" (bifurcated) Staat handelte, der erstens durch die Leitunterscheidung von Bürger versus Indianer und zweitens durch die Teilung zwischen Zentralstaat und lokalen Ausprägungen von Staatlichkeit charakterisiert war. Damit kombinierte der Staat ambivalent eine "republikanische" und eine "koloniale" Regierungsweise, was in der Wiedereinführung des Indianertributs (1828-1857), weiteren Gesetzen allein für die indigene Bevölkerung sowie der Verweigerung der Staatsbürgerrechte für die indigene Bevölkerungsmehrheit seinen Ausdruck fand. Dabei setzte sich der Zentralstaat oftmals in paternalistischer Manier für die Beibehaltung der kolonialen Regierungstechniken ein, während die lokalen Vertreter des Staates auf deren Abschaffung drängten. Diese Unstimmigkeiten wurden von lokalen indigenen Eliten ausgenutzt, um mit dem Zentralstaat gegen die lokalen mestizischen Eliten vorzugehen, eigene Interessen durchzusetzen und somit den Staat von "unten" zu formen.
Derek Williams und Erin O'Conner wenden sich der Regierungszeit des konservativen, katholizistisch orientierten Präsidenten Gabriel García Moreno zu. Williams argumentiert, dass der Staat unter García Moreno - trotz der generellen Unterstützung der Hacienda - die indigene Bevölkerung gegen die Hacienda stärkte, um Arbeitskraft für staatlich gelenkte Modernisierungsprogramme sicherzustellen. O'Conner arbeitet heraus, wie ein revitalisierter patriarchaler Diskurs im Prozess katholischer Staatsformation strategisch eingesetzt wurde, um bestehende Widersprüche zu überdecken.
Michiel Baud analysiert das Beziehungsgefüge zwischen Zentralstaat, regionalen Eliten und subalternen (indigenen) Akteuren im späten 19.Jahrhundert rund um die liberale Bewegung, die 1895 zur liberalen Revolution unter Eloy Alfaro führte. In den liberalen und indigenistischen Diskursen wurde das System der Schuldknechtschaft und allgemein das Hacienda-System und die Zwangsarbeit angegriffen, während die indigene Bevölkerung als zu schützende Gruppe angesehen wurde, die noch nicht "reif" für die Erlangung der vollständigen Bürgerrechte wäre. Die indigenen Gemeinschaften eigneten sich diesen Vulnerabilitäts-Diskurs taktisch an, indem sich sich in Petitionen an den Zentralstaat selbst als "schüchtern", "ungebildet" und "unwissend" bezeichneten. Auf diese Weise konnten sie den Zentralstaat gegen die lokalen Eliten - v.a Hacienda-Besitzer, aber auch die lokalen staatlichen Autoritäten - auf ihre Seite ziehen.
Auch Kim Clark arbeitet die strategische Aneignung des zentralstaatlichen, paternalistischen Diskurses durch die indigenen Gemeinden heraus. Besonders zwischen den 1930er und 1940er Jahren gab es eine weitreichende Unterstützung indigener Gemeinden durch zentralstaatliche Institutionen gegen lokale Machteliten. Je nach politischer Gelegenheitsstruktur nutzte die gleiche Gemeinde einen neo-paternalistischen oder den neuentstandenen indigenistischen Diskurs, um ihre Interessen bei den staatlichen Institutionen durchzusetzen. Doch, so Clark, handelte es sich nicht nur um eine taktische Manipulation staatlicher Diskurse: "Indianer nutzen nicht nur das Gesetz und den Staatsdiskurs, sondern in einigen Fällen wirkten sie an der Generierung dieser diskursiven Ressourcen mit, wenn ihre Petitionen zu neuen Dekreten der Regierung führten." (104)
Wie Marc Becker am Beispiel der verfassunggebenden Versammlung 1944-45 zeigt, wurde die kommunistisch- orientierte Federación Ecuatoriana de Indios seit den 1940er Jahren zu einer der tonangebenden Bewegungen, die die Rolle der Indigenen in den staatlichen Strukturen aufgriff und dabei gerade auch ethnische Forderungen stellte. In den 1960er Jahren wurde dann die Agrarreform die zentrale Frage, bei der die ökonomischen, politischen und sozialen Beziehungen zwischen Staat und indigenen Gemeinden verhandelt wurden. William Waters diskutiert an einem Beispiel in der Provinz Cotopaxi die ungleiche regionale Entwicklung, die begrenzte Reichweite der Landverteilung für die indigenen Gemeinden und die durch neue Institutionen, wie dem IERAC (Instituto Ecuatoriano de Reforma Agraria y Colonización), geschaffenen Beziehungen zwischen Zentralstaat und indigenen Gemeinden.
Amalia Pallares beschäftigt sich mit der Aushandlung von Bürgerrechten vor dem Hintergrund der Anerkennung ethnischer Differenz in der Phase demokratischer Transition von 1979 bis zum ersten indigenen Aufstand 1990. Sie beschreibt wie von der ersten postdiktatorischen Regierung unter Jaime Roldós ein Modell des staatlichen Plurikulturalismus Eingang fand, das die Folgeregierungen Hurtado und Borja fortsetzten. Unter der Regierung Roldós wurde 1979 das allgemeine Wahlrecht - auch für Analphabeten - eingeführt, sowie eine weitreichende Bildungs- und Alphabetisierungskampagne gestartet, wobei die Indígena-Organisationen in einem neu einsetzenden Dialog mit dem Staat Mitspracherechte durchsetzen konnten. Unter der Regierung Borja erkämpfte die nationale Indígena-Organisation CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador) gar die Kontrolle über das bilinguale und bikulturelle Bildungsprogramm DINEIB. Parallel zu dieser plurikulturellen Anerkennungspolitik war jedoch ein Prozess zunehmender Verarmung indigener Bevölkerung festzustellen. Die CONAIE argumentierte, dass kulturelle Rechte erst dann voll zum Tragen kommen, wenn auch ökonomische Rechte und politisches Empowerment gewährleistet sind. Um dazu auf die nationale Politik Einfl uss zu nehmen entwarf die CONAIE zu Beginn der 1990er Jahre das Konzept des Plurinationalismus. Auf Grund der Enttäuschung über die beschränkten Ergebnisse der staatlichen plurikulturellen Anerkennungspolitik kam es dann zu Beginn der 1990er - so Pallardes - zu den indigenen Aufständen.
Brian Selmeski widmet sich mit seiner ethnographischen Analyse einem besonderen Schauplatz staatlicher Praxis und Inszenierung zu: dem Wehrdienst. Dabei argumentiert er, dass der Wehrdienst junge männliche Indigene sowohl physisch (als Rekruten) als auch ideologisch - als zukünftige Bürger und Familienväter - in den Staat integriert. Gerade die Integration von Indigenen ist besonders erfolgreich, da die Armee in den 1990er Jahren ein eigenständiges Modell eines multikulturellen Nationalismus entworfen hat, das die ecuadorianische Geschichte mit einer "glorreichen indianische Vergangenheit" beginnen lässt, und da der Wehrdienst in indigenen Gemeinden als wichtiger Beitrag für die Persönlichkeitsbildung gesehen wird. Dabei wird die Armee als eine große Familie vorgestellt, die der Mutter Nation dient und Ehre erweist. Die "verlorenen" indigenen Söhne werden durch den Militärdienst in die "Nation-als-Familie" wieder eingegliedert, und - analog - dazu erzogen, selber eine Familie führen zu können.
Weitere Beiträge setzten sich in komparativer Perspektive - als Vergleichsfolien dienen Mexiko, Bolivien und Peru - mit den Errungenschaften und Begrenzungen der indigenen Bewegungen bei dem Prozess der Staatsformation auseinander. So vergleicht José Antonio Lucero die Rhythmen, Räume, Strategien und Strukturen der indigenen Bewegungen in Bolivien und Ecuador. Während sich die Tiefland-Indígenas in Ecuador früh organisierten, war das in Bolivien auf Grund der starken weißen Elite in Santa Cruz erst relativ spät der Fall. Dabei nahmen sie - anders als die wenig später entstehenden Hochlandorganisationen - eine ethnische Diskursposition ein, während jene anfangs einen klassenbasierten Diskurs beibehielten. Während die Organisationen in Bolivien stark auf eine imaginierte prä-kolumbische Gemeinschaft oder auf korporatistische Organisationsformen zurückgreifen, konnte sich in Ecuador ein neuer Diskurs von Nationalitäten ausbilden. Die Bewegungen in beiden Ländern haben unterschiedlich auf die neoliberalen Politiken reagiert. Während in Bolivien seit Mitte der 1990er Jahre ein aggressives und tiefgreifendes neoliberales Strukturanpassungsprogramm durchgesetzt wurde, konnte in Ecuador die bereits gestärkte und geeinte Indígena- Bewegung weitreichende neoliberale Reformen - bis auf die Einführung des US-Dollar als Landeswährung - erfolgreich blockieren und so politisches Kapital aufbauen.
Der gut editierte Band schließt mit einem bibliographischen Essay von Marc Becker ab, in dem die einschlägige Literatur zum Verhältnis von Staat und Indigenen im post-kolonialen Ecuador thematisch geordnet wird. Im theoretischen Spannungsfeld zwischen der Herausarbeitung des historischen Kontextes der ecuadorianischen Indígena- Bewegung einer- und der Ethnographie des ecuadorianischen Staates anderseits ist dieses Buch sicherlich eine unverzichtbare Quelle für Anthropologen, Historiker und Soziologen, die sich mit dem Andenraum beschäftigen.
Olaf Kaltmeier

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 113, S. 116-119