Leibniz-Institut für Länderkunde (Hg.): Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland. 13 Bänden. Heidelberg et al. 2000-2006.

Ein Großteil der Information, welche wir bei unseren täglichen Tätigkeiten verarbeiten, hat einen Bezug zur geographischen Umwelt, ist also räumlich verortbar. Karten sind das wichtigste Hilfsmittel zur anschaulichen Vermittlung raumbezogener Information. In einem Atlas werden Landkarten nach thematischen, inhaltlichen oder regionalen Kriterien gesammelt und in einheitlicher Darstellung in Buchform oder loser Folge publiziert.

Eine spezielle Form ist der Nationalatlas, welcher ein Land in möglichst all seinen naturräumlichen und sozioökonomischen Aspekten beschreibt. Er kann auch als eine Art thematisches Gegenstück zu den offiziellen topographischen Karten angesehen werden. Nationalatlanten dienen der Bildung, der politischen Entscheidfindung und nicht zuletzt auch der Repräsentation eines Landes gegen außen. Die ersten Nationalatlanten wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Finnland und Kanada im Rahmen der Unabhängigkeitsbestrebungen publiziert. In der Schweiz schlug der Kartograph Eduard Imhof bereits 1941 vor dem Hintergrund der sog. „geistigen Landesverteidigung“ die Schaffung eines „Landesatlas“ vor, realisiert wurde der „Atlas der Schweiz“ aber erst rund 25 Jahre später. Die Bundesrepublik Deutschland tat sich nach dem 2. Weltkrieg lange Zeit mit der Erstellung eines eigenen Nationalatlas schwer. In der DDR wurde ein solcher Atlas immerhin bereits in den frühen 1980er-Jahren herausgegeben. Erst nach der Wiedervereinigung und der klaren Definition des Grenzverlaufes im Jahre 1990 wurden unter Federführung des Zentralausschusses für deutsche Landeskunde, des Zentralverbandes der deutschen Geographen und der Deutschen Gesellschaft für Kartographie erste Konzeptarbeiten zu einem gesamtdeutschen Nationalatlas an die Hand genommen. 1995 wurde das Leibnitz-Institut für Länderkunde in Leipzig mit den Redaktionsarbeiten betraut. Nach der Publikation eines Pilotbandes im Jahre 1997 begannen Arbeiten an den insgesamt 13 Bänden, welche zurzeit mit dem Registerband abgeschlossen werden: Band 1: Gesellschaft und Staat (2000), Band 2: Relief, Boden, Wasser (2003), Band 3: Klima, Pflanzen- und Tierwelt (2003), Band 4: Bevölkerung (2001),Band 5: Dörfer und Städte (2002), Band 6: Bildung und Kultur (2001), Band 7: Arbeit und Lebensstandard (2006), Band 8: Unternehmen und Märkte (2004), Band 9: Verkehr und Kommunikation (2001), Band 10: Freizeit und Tourismus (2000), Band 11: Deutschland in der Welt (2005), Band 12: Leben in Deutschland (2006), Band 13: Registerband (2007). Die zwölf Themenbände sind nach einem klassischen thematisch-länderkundlichen Ansatz konzipiert, ähnlich wie bei vergleichbaren Werken, z. B. dem Schwedischen Nationalatlas. Es wurde ein sehr großes Gewicht auf humangeographische Aspekte gelegt. Nur zwei Bände sind physisch-geographischen Themen gewidmet und behandeln die Themen Relief und Landschaft, Geologie, Geomorphologie, Boden, Wasser, Klima, Pflanzen- und Tierwelt. Am Beispiel der Fauna zeigt es sich, dass im Atlas nicht unbedingt immer vollständige und umfassende Verbreitungskarten möglichst vieler Phänomene angestrebt werden, sondern eher exemplarische Karten mit einzelnen Themen und Aspekten, welche die Autorentexte ergänzen oder illustrieren. Einzelne Karten zeigen die Verbreitung als Rasterdarstellung (z. B. Restpopulationen von gefährdeten Käferarten), andere sind quantitativ ausgerichtet und sehr stark generalisiert dargestellt (z. B. die etwas fragwürdige Einteilung der Anzahl Brutpaare des Rotmilans nach Bundesländern). In einigen Karten werden auch Korrelationen zwischen Themen herausgearbeitet, so bei der Verbreitung des Kranichs und der Seendichte. Die humangeographisch ausgerichteten Bände 1 sowie 4–12 des Nationalatlas überraschen durch eine fast unerschöpfliche Themenvielfalt, welche aber die Orientierung manchmal etwas erschwert. Als Beispiel eines Themas aus dem Band „Arbeit und Lebensstandard“ sei die Karte der Fernpendlerströme zwischen den Ländern erwähnt. Die in Pfeildarstellung visualisierten Pendlerzahlen können auch zwischen nicht hauptsächlich städtisch geprägten, benachbarten Ländern durchaus Werte um 100 000 Personen annehmen; z.B. zwischen Bayern und Baden-Württemberg je in beiden Richtungen. Interessant ist dabei die Typisierung der Bundesländer nach negativem und positivem Pendlersaldo. So stehen in Hamburg und Bremen erwartungsgemäß wenige Auspendler vielen Einpendlern gegenüber. Der gegenteilige Effekt ist in ländlich geprägten Gebieten wie Rheinland-Pfalz, Brandenburg und Schleswig-Holstein zu beobachten. Die restlichen Länder liegen etwas weniger ausgeprägt unter- oder oberhalb der neutralen Pendlersaldo-Geraden; mit einem deutlichen Cluster der neuen Bundesländer im Negativsaldobereich. Erstaunlich sind die z. T. hohen Zahlen von Fernpendlern, welche in nicht benachbarten Ländern arbeiten oder eine Ausbildungsstätte besuchen. So pendeln je rund 20 000 Personen von Nordrhein-Westfalen nach Bayern resp. Baden-Württemberg und umgekehrt, wobei es sich hier wohl hauptsächlich um Wochenpendler handelt. Im Begleittext wird auch ausführlich auf Gründe des Pendelns (aufgrund der Qualifikationen verfügbare Arbeitsstätten, gewählte Wohnstätten, familiäres Umfeld) und auf die vorwiegend negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Sozialleben der Pendler eingegangen. Die Abschlussbände 11 und 12 sind themenübergreifend konzipiert und deren zuweilen etwas exotischer Inhalt (z. B. „Feng Shui & Co.“) könnte zum größten Teil ebenso in anderen Bänden untergebracht werden. Die meisten Themen im humangeographischen Teil werden anhand statistischer Daten und auf klassischen Choroplethen-, Diagramm-, Banddiagrammoder Netzwerkkarten vorgestellt. In einzelnen Fällen werden aber auch neuere Präsentationsformen gewählt, wie z. B. die Darstellung der Bevölkerungsdynamik zwischen 1997 und 2015 als thematisches Relief kombiniert mit einer Isolinienkarte. Die Erläuterungstexte sind zudem oft durch Diagramme, Tabellen und Schemata ergänzt. Aber auch Phänomene mit qualitativen Merkmalen wie Dialektverbreitungskarten finden ihren Platz im Atlas. Die Kartendarstellungen im Nationalatlas stützen sich auf eine Reihe von Basiskarten in Standardmaßstäben. Der formatbedingt größte zur Verfügung stehende Maßstab 1:2 750 000 lässt eine vernünftige Darstellung statistischer Informationen bis auf Kreisebene hinunter zu. Eine gemeindeweise Darstellung der Feinstrukturen ist damit leider nicht möglich. Die Themen werden als zwei- bis vierseitige Artikel in einem modernen Layout präsentiert, wobei oft eine der erwähnten Karten im Maßstab 1:2 750 000 ganzseitig beigefügt ist. Einen wichtigen Mehrwert bietet die CD-ROM-Version, welche separat oder in Kombination mit den gedruckten Bänden erworben werden kann. Sie enthält zunächst alle Artikel, vergrößerbaren Karten und Abbildungen der gedruckten Version. Daneben wird aber auch eine Reihe von multimedialen Karten angeboten: So ist die animierte Karte der Pkw-Produktionsstandorte zu erwähnen, welche u. a. mit bewegten Pfeilen die internen Lieferverflechtungen innerhalb der Autoindustrie und der Zulieferer aufzeigt. Sehr nützlich sind das Inhaltsverzeichnis, das Glossar und das Stichwortverzeichnis, welche allesamt mit den entsprechenden Beiträgen verlinkt sind. Ein spezielles Programm „ikart“ ermöglicht die Darstellung statistischer Daten als Choroplethen- und Diagrammkarten. Klassierungsart, Anzahl Klassen, Farbskala, Diagrammart und Selektionskriterien können durch den Benutzer beeinflusst werden. Zwei Kartenthemen können nebeneinander dargestellt oder überlagert werden um allfällige Beziehungen zu erkunden. Ebenfalls erfreulich ist der Zugriff auf die Originaldaten in Tabellenform. Der „Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland“ schließt eine seit langem bestehende Lücke in den geographischen und kartographischen Publikationen Deutschlands. Er bietet einen umfassenden Überblick über die vielfältigen naturräumlichen und gesellschaftlichen Aspekte des Landes. Durch die Beschränkung auf wenige Seiten sind die grafisch ansprechend gestalteten Artikel auch für ein breites Publikum „verdaubar“, gemahnen zuweilen jedoch etwas an ein klassisches Geographiebuch. Im Unterschied dazu zeigt sich aber der Wert konsequent eingesetzter thematischer Karten als ideale Vermittler raumbezogener Information und insbesondere auch dynamischer Phänomene. Es bleibt der Makel der Momentaufnahme aufgrund des gewählten Printmediums. Die CD-ROM- (oder allenfalls eine Internet-) Version würde jedoch eine kostengünstigere Fortführung und Erweiterung des Werkes auch in Zukunft ermöglichen. Es ist zu hoffen, dass sich der Atlas als geographisches Standardwerk über Deutschland etabliert und insbesondere im Bildungsbereich und in der Politik, aber auch für wissenschaftliche Untersuchungen eine große Verbreitung findet.

Autor: Lorenz Hurni

 

Quelle: Die Erde, 138. Jahrgang, 2007, Heft 1, S. 70-72