Aram Ziai (Hg.): Exploring Postdevelopment. Theory and practice, problems and perspectives. London u.New York 2007. 240 S.
In diesem Sammelband legen 14 AutorInnen auf 240 Seiten eine Zwischenbilanz der andauernden Debatte um die entwicklungskritischen Ansätze vor, die unter dem Label "post-development" zusammengefasst werden, wobei sie aktuelle Theorien und Praktiken aufgreifen sowie Probleme und Perspektiven aufweisen.
Editorisch ist besonders hervorzuheben, dass der Herausgeber in dem Band deutlich präsent ist, und mit einer Einleitung, einem theoretischen Beitrag, einem zusammen mit Friederike Habermann geschriebenen, praxisorientierten Beitrag sowie abschließenden Erörterungen einen roten Faden durch das Buch zieht. Aram Ziai führt den Band mit einem gekonnten state of the art ein, in dem er die zentralen Stationen des postdevelopment- Ansatzes von Wolfgang Sachs The development dictionary über Arturo Escobars Encountering development und den von Majid Rahnema und Victoria Bawtree herausgegebenen Post-development Reader bis hin zu den einschlägigen kritischen Diskussionen aufführt.
In seinem programmatisch angelegten Artikel arbeitet Arturo Escobar, einer der Hauptvertreter der Entwicklungskritik, die Bedeutung des post-development- Ansatzes als eines der drei zentralen Paradigmen in den letzten 50 Jahren entwicklungstheoretischer Diskussion heraus und bilanziert: "Modernisierungstheorie mit den damit verbundenen Theorien von Wachstum und Entwicklung in den 1950er und 1960er Jahren; Dependenztheorie und verwandte Ansätze in den 1960er und 1970er Jahren; und kritische Ansätze, die Entwicklung als kulturellen Diskurs betrachten, in der zweiten Hälfte der 1980er und 1990er Jahre." (18) Dabei betont Escobar die an Foucault angelehnte konzeptuelle Problemstellung, bei der es nicht um die Frage nach der besseren Form von Entwicklung geht, sondern um die Genealogie des Entwicklungskonzeptes in seinen Dimensionen als historisches Konzept, als institutioneller Apparat, wobei Mechanismen von Professionalisierung und Institutionalisierung greifen, sowie als Form von Exklusion. Hierbei wird ein besonderes Augenmerk auf die Koppelung von Macht und Wissen sowie die Exklusion von "Wissen, Stimmen und Anliegen" (20) derer, die entwickelt werden sollen, gelegt. Im weiteren diskutiert Escobar die Bedeutung der Konzepte von Entwicklung und Modernisierung unter den aktuellen Bedingungen forcierter Globalisierungsprozesse, wobei er die zentrale Frage stellt: "Ist Globalisierung die letzte Phase kapitalistischer Entwicklung oder der Anfang von etwas Neuem?" (26) Mit dem brasilianischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos argumentiert Escobar, dass wir uns sowohl epistemologisch als auch sozio-politisch jenseits der Moderne bewegen. Diese Phase "nach Entwicklung" und "nach Moderne" ist nun allerdings kein Siegeszug von grassroot-Ansätzen, sondern es gibt ein "neues Gesicht eines globalen Imperiums und Sozialfaschismus'" (27), was sich vor allem in einer strukturellen Dominanz von Exklusion über Inklusion ausdrückt, wobei Escobar geopolitisch die Dominanz der USA als letzter verbliebener Großmacht herausstellt. Da im Denken des postdevelopments die Moderne nicht mehr als "Great Singularity" (29), sondern als Multiplität verstanden wird, sieht Escobar widerständige Perspektiven vor allem an den Rändern der Moderne heranwachsen.
In einem weiteren Beitrag vertieft Aram Ziai die kritische Debatte um post-development und argumentiert, dass unter den post-development-Ansätzen zwischen neo-populistischen und skeptischen Ansätzen unterschieden werden kann. Während auf erstere deutlich die in der entwicklungspolitischen Debatte geäußerten Kritikpunkte des Romantisierens von lokalen Gemeinschaften, der Essentialisierung von Kulturen sowie eines undifferenzierten Entwicklungs- und Modernisierungsbegriffs zutreffen, sind die differenzierten skeptischen Ansätze nicht ohne weiteres mit diesen Kritiken auszuhebeln. Diese Verteidigung der post-development-Ansätze durch eine Differenzierung, bei der die "neo-populistischen Ansätze" (Ziai) herausgefiltert werden, ist in verschiedenen der hier versammelten Beiträge präsent. In diesem Zusammenhang plädiert Ziai für eine konsistentere Ausarbeitung poststrukturalistischer Ansätze, was er mit dem Rückgriff auf das Konzept "radikaler Demokratie" demonstriert, wie es von Laclau und Mouffe eingeführt wurde. In dieser Lesart liegt die Bedeutung skeptischer post-development-Ansätze darin, "soziale Konfliktivität auf die Bereiche von Entwicklung und Entwicklungspolitik" (124) auszudehnen und dabei die vorherrschende Geopolitik des Wissens in Frage zustellen.
Post-development-Ansätze zeichneten sich vor allem durch diskursanalytische und wissenssoziologische Zugriffe auf das Konzept von Entwicklung aus, in diesem Sammelband wird in verschiedenen Beiträgen der Versuch unternommen, diese diskursanalytischen Ansätze mit in der Entwicklungssoziologie vorherrschenden akteurszentrierten Ansätzen, wie dem Schnittstellenansatz von Norman Long (so in Jon Harald Sande Lies' Beitrag "Post-development-discourse and discourse-agency interface") zu verbinden. Bemerkenswert ist, dass keiner der Beiträge sich um eine konsistentere oder empirisch abgesicherte Vertiefung textueller bzw. diskursanalytischer Verfahren bemüht.
Die innovativsten Anstöße in diesem Band gehen von den Beiträgen aus, die sich auf das Werk des brasilianischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos beziehen (so Susan Maiava & Trevor King, J.K. Gibson-Graham, Ana Agostino sowie Escobar). Agostino unterstreicht, dass die im post-development geäußerte grundlegende Ablehnung von Entwicklung, das Nein zu Entwicklung als erster Schritt zum Aufbau von Alternativen verstanden werden muss. Mit Santos arbeitet sie heraus, dass es darum geht, die herrschenden Monokulturen - modernes Wissen, lineare Zeit, Naturalisierung von Unterschieden, Raumkonzepte nach denen das Universelle das Lokale bestimmt, kapitalistische Produktivität - zu dekonstruieren und in einer Soziologie der Abwesenheit das bisher Unterdrückte herauszuarbeiten. Diesen Ansatz sieht sie im Rahmen des Weltsozialforums verwirklicht, das sie - ähnlich wie Ziai und Habermann die Bundes Koordination Internationalismus (BUKO) - als globales Netzwerk betrachtet, das radikale Demokratie verwirklichen und die Soziologie der Abwesenheiten in eine Soziologie des Emergenten überführen könnte.
Auch Gibson-Graham schließt an Santos' Soziologie der Abwesenheiten und seine Kritik an den Monokulturen an. Statt die Betrachtungsweise auf die Monokulturen zu fixieren, kommen mit Santos' Soziologie der Abwesenheit die "Ökologien" in den Blick, die beispielsweise in Hinblick auf die Produktivitäten im philippinischen Dorf Jagna zu einem komplexen Bild komplementärer ökonomischer Tätigkeiten kommen. Hierbei fallen insbesondere alternativ-kapitalistische sowie nicht-kapitalistische ökonomische Aktivitäten auf (151). Mit dieser Sichtbarmachung des bisher "Abwesenden" ist ein wichtiger konzeptueller Schritt für post-development-Praktiken gemacht, so dass emergente Alternativen, die im konkreten Möglichkeitshorizont liegen, sich ausbilden können.
In dem Sammelband überwiegen Beiträge, die sich entweder konzeptuell mit dem Begriff von "Entwicklung" sowie der aktuellen Debatten um post-development auseinandersetzten (Ziai, Escobar, Knut G. Nustad, Yoshihiro Nakano, Luciole Sauviat), oder aber Ansätze die spezifische lokale Fallbeispiele mit post-development-Ansätzen verbinden. Dabei werden erstens vor allem Subsistenzökonomien und Solidarpraktiken als Alternativen zum vorherrschenden kapitalistischen Entwicklungspfad herausgehoben (Sally Matthews, Gibson- Graham, K. Ravi Raman, Martina Kaller-Dietrich). Zweitens wird in politischen, selbstorganisierten Netzwerken wie vor allem im Weltsozialforum - sowohl was deren Gegner als auch was deren Konzepte angeht (so Agostino: 205) - eine strukturelle Ähnlichkeit zu post-development-Ansätzen gesehen (siehe Ziai, Ziai & Habermann, Escobar, Agostino). Letzteres öffnet den Blick für ein neues Forschungs- und Praxisfeld.
Allerdings wird der von Ziai angeführte Kampf um Hegemonie im entwicklungspolitischen Feld in den weiteren Beiträgen kaum aufgegriffen, da sich kein Artikel explizit mit entwicklungspolitischen Strategien von internationalen Institutionen wie Weltbank, IWF, UNO, aber auch von internationalen NGOs oder mit staatlicher Entwicklungszusammenarbeit auseinandersetzt. Dies ist umso erstaunlicher, da in mehreren Texten zu Recht angemerkt wird, dass Entwicklung nicht außerhalb des Kontextes verstanden werden kann, und dass - pikanterweise - post-development- Ansätze parallel zur Hochphase neoliberaler Politiken Konjunktur hatten (Ziai), wobei besonders die geforderte Autonomie (Sauviat, die auf Cornelius Castoriadis zurückgreift) insofern ambivalent ist, da sie auch neoliberalen Regierungstechniken zur Selbststeuerung dienen kann. Die Rekonzeptualisierung, die Anpassung von Instrumenten und die Institutionalisierung bzw. Privatisierung von Entwicklung im Kontext der herrschenden Institutionen werden leider kaum refl ektiert. Damit besteht die Gefahr, dass sich der post-development- Ansatz aus den Debatten um Hegemonie in der Entwicklungspolitik herauskatapultiert, obwohl er dort - paradoxerweise - gerade seine schärfste Kritik anbringen konnte.
Olaf Kaltmeier