Gloria Davies: Worrying About China. The Language of Chinese Critical Inquiry. Cambridge/Massachusetts u. London 2007 312 S.
Über die Erläuterung des Begriffs youhuan yishi, des Sich Sorgens um China, führt dieser Band in die chinesischsprachige Auseinandersetzung um ›westliche‹ (post-)moderne Theorien und ihre mögliche Verortung in der chinesischen Kultur ein. Youhuan yishi, so Davies, sei ein konfuzianisches Konzept der moralischen Verpflichtung, sich durch Selbstkultivierung (xiushen) für die Verbesserung der chinesischen Nation bzw. der chinesischen Zivilisation (tianxia "alle unter dem Himmel") einzusetzen. Anhand von detaillierten Beispielen wird die Rezeption von Postmodernismus, Postkolonialismus, Neomarxismus und der weiterhin anhaltende Einfluss von Maoismus und Marxismus-Leninismus in chinesischsprachigen Publikationen (mehrheitlich einzelne Essays, aus Anthologien und Internetforen entnommen) in Transnational China dargestellt.
Ein Großteil der chinesischen Intelligenzija fühlt sich im heutigen China gemäß Verf. noch immer einer "Rhetorik des Altruismus" (68ff) verbunden und bezieht sich bei der Kritik aktueller Politik insbesondere auf neokonfuzianische Denktraditionen und Reform- und Modernisierungskonzepte der Vierten Mai Bewegung. Diese wichtige Funktion des Neokonfuzianismus wird in dem Band sowohl für die "(Re-)konstruktion chinesischer Kultur" im Anschluss an die Kulturrevolution als auch im Kontext der Debatten um den ökonomischen Erfolg asiatischer Nationen im System des globalen Kapitalismus diskutiert.
Wie der Titel bereits impliziert, spielt innerhalb der chinesischen geschriebenen Sprache die sich aus diversen historischen Elementen zusammensetzt, die Wahl der Ausdrucksmittel für die Formulierung gesellschaftlicher Kritik eine große Rolle. Weist nach Davies die Verwendung von Vier-Charakter-Ausdrücken im traditionellen Sprachstil (wenyan) und rhetorischen Mitteln wie Ironie und scharfsinnigen Wortspielen (quwei) auf eine Positionierung innerhalb konfuzianischer und anderer chinesischer Denkrichtungen hin, so lässt eine Häufung von auf Übersetzungen beruhenden Neologismen eher auf eine "westliche" Theoriebasis schließen. Verf. führt an dieser Stelle Derridas Konzept der "so genannten Kunst und Kultur Muttersprache als Heimat (home)" (21) an, um aufzuzeigen, in welchem Ausmaß die chinesische geschriebene Sprache dafür eingesetzt wird, eine "kulturelle und zivilisatorische Renaissance" (wenming fuxing) und die Ankunft einer "chinesischen Demokratie" stets mit zu artikulieren. Weiter zeigt Verf. in diesem Kontext die Funktionalisierung von Theorien von u.a. Hegel, Habermas, Weber, Foucault und Jameson für den eben angeführten Zweck auf. Im Kontext ihrer Übersetzung in die chinesische Schriftsprache komme es je nach inhaltlicher Position, die argumentativ unterlegt werden soll (224), nicht selten zu Bedeutungsverschiebungen. So zeigt Verf. etwa am Begriff "Freiheit" auf, wie eine Interpretation Derridas mit Definitionen aus der Republikzeit zusammengebracht wird (227ff).
Ein anderes Beispiel für die Kontinuität bestimmter "Modalitäten des Lesens und Arbeitens " erkennt Verf. im Konzept "den Kupfer aus dem Berg extrahieren" (cai tong yu shan), das die Relevanz betont, Erkenntnisse aus Quelltexten zu gewinnen, da in diesen eine auch noch für die Gegenwart bedeutungsvolle Form von "Wahrheit" zu fi nden sei. Gleichzeitig komme dieses Verfahren dem herrschenden Zwang entgegen, sich stets innerhalb der von der KP Chinas vertretenen Version einer sozialistischen Marktwirtschaft zu verorten und Kritik ausschließlich zwischen den Zeilen zu äußern, um in der Volksrepublik publizieren zu können.
Verf. arbeitet mit einer groben Aufteilung der chinesischsprachigen Intellektuellen in "Neue Linke" und "Liberale". Während die erstgenannten europäische und us-amerikanische kritische Theorie primär zur Verteidigung "sozialistischer Werte" gegen den neoliberalen Kapitalismus und seiner sozialen Ungerechtigkeiten und zum Propagieren einer radikalen Form direkter Demokratie nutzten, träten die Liberalen für die graduelle Etablierung einer konstitutionellen Demokratie ein (84). In den letzten Jahren glaubt Verf. eine Zunahme der Unterstützung der "Neuen Linken" durch staatliche Institutionen zu erkennen. Die KP Chinas versuche vermehrt, Intellektuelle aus diesem Umfeld in ihre Think-Tanks einzubinden (103). Darüber hinaus stellt sie eine deutliche Verschiebung der Selbstverortung der Intellektuellen, der Diskurse und der Ziele von den 1980er Jahren zu den 1990er Jahren fest. Standen in den 1980er Jahren in einem tiefen Aufatmen nach der Kulturrevolution und den Massenbewegungen der Mao-Ära Individualismus, Subjektivität und neue Ideen (sixiang) im Mittelpunkt, widmete man sich in den 1990ern nach der Zäsur von 1989 vermehrt der Etablierung von Standards für das akademische Arbeiten (xueshu guifanhua). Obwohl sich in der VR China solche Standards zunehmend durchsetzen, gibt es nach Beobachtung von Davies weiterhin zahlreiche Texte mit Stilelementen in der Tradition von Aufsätzen (sanwen) und Feuilletons (zawen), die mit sogenannten "versteckten Zitaten" (anyin) arbeiten und in einzelnen Fällen zu Plagiatsvorwürfen führen (227).
Insgesamt bietet der Band einen sehr guten Einblick in die Positionierungen, Debatten, übergreifenden Ziele und Problematiken des chinesischsprachigen intellektuellen Schaffens und weist auf theoretische Kontinuitäten hinter den Brüchen hin. Verf. glaubt, dass bei der chinesischen Rezeption westlicher Theorie eher von Rekonstruktion (chongjian/ chonggou) als von Dekonstruktion (jiegou) zu sprechen sei (236ff), da das gesamte intellektuelle Schaffen der ›Perfektionierung Chinas‹ untergeordnet werde. Dabei sei dieses Ziel aber durchaus etwa vergleichbar mit Zygmunt Baumans Sichtweise von Europa als ›a mission - something to be made, created, built‹ (237).
Kimiko Suda