Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 2006. 175 S.

Dass wir in einer Wissensgesellschaft leben, gehört zu jenen Diagnosen, denen kaum widersprochen wird. Allein die Allgegenwart des Begriffs sollte stutzig machen. Verf. hat dagegen eine über weite Teile brillant formulierte Streitschrift gegen "die Irrtümer der Wissensgesellschaft" vorgelegt und sie, in Anklang an Adorno, als "Theorie der Unbildung" bezeichnet. Er geht mit vielem hart ins Gericht: punktuelles Faktenwissen der Wissensshows, lifelong learning, das Bildung ersetzt, den Umgang mit Bildung und dem, was von ihr übrig geblieben ist, den in PISA-Studien kulminierenden ranking-Wahn, die inhaltliche Leere des Bologna-Prozesses, Elitenbildung und hegemoniale Gegenaufklärung.

Liessmann ist kein plumper Eiferer. Er verwischt Inhalte nicht mit sprachlichen Pointen. Wer an Bildung festhält, wird Verf. in vielem, nicht in allem, folgen können und vieles auf den polemischen, gelegentlich ironischen Begriff gebracht sehen. Dass er bei manchem dazu tendiert, über sein eigenes Bildungsziel hinaus zu schießen, liegt in der Natur einer Streitschrift, die auch Kritik an ihr selbst provoziert. Vor allem weil sie der Gesellschaftstheorie entbehrt. Denn er nimmt nicht zur Wissensgesellschaft als gesellschaftstheoretischer Kategorie Stellung, die vielfach in den Rang einer Epochenbezeichnung gehoben wird.
Wer Definitionen zentraler Begriffe erwartet, wird enttäuscht, zumindest wenn operationale Definitionen gemeint sind. In der Wissensgesellschaft "lernt niemand mehr, um etwas zu wissen, sondern um des Lernens selbst willen" (27), denn Wissen veralte rasch und verliere damit seinen Wert. Das Resultat ist eine "Desinformationsgesellschaft". Demgegenüber ist Wissen, so Verf., "eine Form der Durchdringung der Welt: erkennen, verstehen, begreifen" und "nicht eindeutig zweckorientiert" (29). Er räumt mit vielfach unhinterfragten Postulaten herrschender Diskurse in Schule, Universität und Weiterbildung auf, wenn er festhält, dass Organisationen kein Wissen besitzen können, dieses nicht konsumierbar ist, Bildungsstätten keine Dienstleistungsunternehmen sein können und die Aneignung von Wissen nicht spielerisch erfolgen kann, "weil es ohne die Mühe des Denkens schlicht und einfach nicht geht" (31). Was bleibt, ist die gerade von der EU forcierte Ideologie des ›lifelong learning‹, das tendenziell zum Zwang gerät. Das alles ist nicht neu, aber selten so kompakt auf den Punkt gebracht.
Das schwerste intellektuelle Geschütz bringt Verf. dort in Stellung, wo er, vornehmlich an die Universitäten gewandt, aber prinzipiell auf alle Bildungseinrichtungen gemünzt, gegen die Tendenz wettert, institutionelle Reformen von Unternehmensberatungen konzipieren zu lassen. "Wer zusieht, wie Universitätsfunktionäre jede noch so dumme ökonomistische Phrase aus dem Repertoire der Heilslehren des New Management beflissen adorieren, muß sich über die einstige Willfährigkeit der Intelligenz gegenüber anderen ideologischen und totalitären Versuchungen nicht mehr wundern" (47). Und weiter: "Was die Bildungsreformer aller Richtungen eint, ist ihr Haß auf die traditionelle Idee von Bildung." (52) Von jenen, die sich auf der Höhe der Zeit wähnen, wird daher von ›Wissensmanagement‹ gesprochen. Die damit an Universitäten verbundene "schleichende Transformation von freier Wissenschaft in ein unfreies Dienstleistungsgewerbe " (91), der Bologna-Prozess, "die Leere des europäischen Hochschulraumes" und Kurzstudiengänge, mit denen der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Reflexivität aufgegeben wird, sind Verf. ein Gräuel. Demgegenüber hält er an "humanistischer Bildung" fest, denn eine andere gibt es nicht. Mit Bezug auf Humboldt sieht er exemplarisches Lernen als Zugang. Dass er dabei nicht auf die einschlägige Theorie von Oskar Negt rekuriert, charakterisiert seinen Ansatz. Platter Bildungsbürger ist er jedoch keiner, vielmehr klassischer Aufklärer.
Die Entwicklung des aktuellen Bildungsgeschehens mündet in "Halbbildung", die der Todfeind von Bildung ist, aber institutionalisiert wird. Er macht sich prinzipiell angreifbar, wenn er "Halbbildung" in einen Kontext mit Demokratisierung bringt. Doch "was sich im Wissen der Wissensgesellschaft realisiert, ist die selbstbewußt gewordene Bildungslosigkeit" (73). Und, auf gesellschaftliche Praxis gemünzt: "der Triumph des Meinungsjournalismus ist die Kehrseite der Tatsache, daß niemand mehr etwas weiß" (53). - Ganz besonders haben es ihm die gegenwärtigen Bildungsreformen angetan, "die gnadenlos auf Zukunft und das Neue zu setzen scheinen, tatsächlich die größte Rückkehrbewegung der neueren Geschichte darstellen" (164).
Sein Fazit fällt vernichtend aus: Statt auf eine ›Wissensgesellschaft‹, bewegen wir uns auf eine ›Kontrollgesellschaft‹ zu. "Fast alles, was gegenwärtig unter dem Begriff ›Autonomie‹ verhandelt wird, gehorcht dem Imperativ einer solchen sozialen Formation: Herrschaft durch Selbststeuerung" (173). Die Lust an der Kritik der ausgehenden 1960er Jahre wurde längst "von einer nicht weniger ideologischen Lust an der Affirmation" (174) abgelöst. Verf. ignoriert jedoch die gesellschaftlichen Grundlagen für seine auf der Erscheinungsebene angesiedelten Befunde und zeigt daher keine Alternativen auf, die allerdings von einer essayistischen Streitschrift auch nicht zu erwarten sind.  
Wilhelm Filla

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 130-131