Robert Castel: La discrimination négative. Citoyens ou indigènes? Paris (Reihe La République des Idées) 2007. 141 S.
Verf. knüpft an die in L'insécurité sociale (vgl. Arg. 256, 212ff) entwickelte Argumentation an. Der Titel bringt seinen Gegenbegriff in Erinnerung, die "positive" Diskriminierung bzw. Förderung benachteiligter Minderheiten - allerdings weniger die damit verbundenen konkreten Maßnahmen, wie z.B. Quotenregelungen, als vielmehr das politische Schlagwort, das die rechten Regierungen Frankreichs für sich zu vereinnahmen suchten, u.a. durch die Ernennung vereinzelter aus Nordafrika stammender Franzosen zu hohen Staatsbeamten. Nach der Präsidentschaftswahl hat Nicolas Sarkozy mit der Wahl Rachida Datis als Justizministerin solche positive Diskriminierung als selbsterfundene Leitlinie zu präsentieren gesucht. Derartigen spektakulären Public-Relations-Aktionen gegenüber galt es, die erdrückende Macht der gängigen, negativen Diskriminierung der Immigranten und ihrer Nachkommen herauszuarbeiten.
Gegenstand sind v.a. die meist schon in Frankreich geborenen und mit französischen Bürgerrechten ausgestatteten Heranwachsenden nordafrikanischer und subsaharischer Herkunft, die zumeist in den Plattenbau-Satellitenstädten um Paris und einigen anderen Großstädten herum untergebracht sind. Um deren Lebensverhältnisse geht es, aber auch um das Bild, das von ihnen in den Köpfen der französischen Mehrheitsbevölkerung, der Polizei und der Justiz erzeugt worden ist. Castel beginnt damit, dass es sich bei diesen "banlieues" - offiziell heißen sie "zones urbaines sensibles" (ZUS) - anders als in New York, Chicago oder Los Angeles, nicht um Ghettos handelt, jedenfalls noch nicht. Ihre Bevölkerung ist weder religiös, noch ethnisch oder rassisch homogen, die "français de souche" (der Abstammung nach) bilden auch dort immer noch die Mehrheit. Gleichwohl ist mit den Vorstadtgürteln ein Raum konstruiert worden, in den hinein alle Benachteiligten und Deklassierten abgeschoben werden können. Das erste Kapitel heißt entsprechend "La construction d'un espace de rélégation" (15).
Castel erinnert an die städtebaulichen und sozialpolitischen Konzeptionen, die Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre dazu geführt haben, diese Zonen gleichsam aus dem Nichts zu schaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Frankreich 10 Millionen Wohnungssuchende, die neuerbauten Vorstädte konnten 7 Millionen davon aufnehmen. Ihre Bewohner verfügten, manche von ihnen erstmals, über einen modernen Wohnkomfort, wie Heizung, eigene Toiletten und Warmwasser, sowie dank der Vollbeschäftigung auch über einen bescheidenen materiellen Wohlstand. Die Kritik an diesen Neubauvierteln richtete sich damals fast ausschließlich auf den Mangel an Begegnungsräumen, wie Post, Läden, Cafés oder Parks, wie sie in den Stadtzentren selbstverständlich waren. Mit der Massenarbeitslosigkeit, die zuerst ihre Bewohner traf, kam es dann zu einer zunehmenden Verarmung und Ethnisierung.
Bei der überwiegenden Mehrzahl auch der Immigrantenjugend kann gleichwohl keine Rede sein von einem Rückzug auf Sprache, Kultur und Religion der Ursprungsethnie, von einem Rückzug also auf einen "Communautarisme". Von den befragten Algeriern der zweiten Generation erklärten 87 % Französisch für ihre Muttersprache, nur 28 % verstanden noch Arabisch oder Kabylisch, 68 % bezeichneten sich als religionslos. "Das Problem dieser Jugend ist es nicht, außerhalb der Gesellschaft zu stehen, weder hinsichtlich des Raumes, den sie bewohnen (sie leben nicht in Ghettos), noch hinsichtlich ihres rechtlichen Statuts (die meisten von ihnen sind französische Bürger). Aber sie stehen auch nicht ganz innerhalb der Gesellschaft, weil sie dort keinen anerkannten Platz gefunden haben und viele von ihnen sich aus eigener Kraft einen solchen auch nicht schaffen können." (38)
Die Gründe dafür werden in den folgenden Kapiteln analysiert. Der Vorstadtgürtel ist "von der neuen Problematik der sozialen Frage umklammert: der Massenarbeitslosigkeit, der Dequalifizierung breiter Segmente unterer popularer Gesellschaftsschichten, der Installierung der Prekarität als neuem Modus der Arbeitsverhältnisse, der Pauperisierung bestimmter Kategorien von Arbeitern, der Wiedererstehung von sozialer Ungesichertheit." (41) Die Abkömmlinge der Immigranten bilden da gegenüber der französischen Ursprungsgesellschaft keine Ausnahme. "Sie wissen, dass Arbeit knapp ist, dass ihr Lebensrahmen alles andere als anziehend ist und dass Erfolg in der Schule keineswegs mehr beruflichen Erfolg garantiert. Aber zum Unglück der Armut und der Unsicherheit der Zukunft gesellt sich ein tiefgreifendes Gefühl der Ungerechtigkeit; sie stellen fest, dass sie angesichts der Situationen, die sie zu bestehen haben, nicht gleich behandelt werden", denn "ein ethnisch rassischer Faktor verstärkt die soziale Misere, und schreibt sie in die Logik der negativen Diskriminierung fest" (42).
Auf mehreren Ebenen wirkt sich die Diskriminierung auf die Jugendlichen außereuropäischer Herkunft aus: im Kontakt mit der Polizei, die sie oft mehrfach täglich kontrolliert, wenn sie - im Jargon der Beamten - "nordafrikanischen oder afrikanischen Typs" sind, so dass sich als Kritik an einem solchen Vorgehen der Ausdruck "délit de faciès" ("Gesichtsdelikt") eingebürgert hat. Sodann bei den Gerichten: bei 1800 Verfahren wurden langdauernde Gefängnisstrafen in 25 % bei Angeklagten "nordafrikanischen Typs", nur 10 % bei solchen "europäischen Typs" ausgesprochen. In der Altersstufe von 18-24 Jahren landen Heranwachsende ›nordafrikanischen‹ Typs zehn mal so häufig im Gefängnis wie solche des ›europäischen‹. Castel räumt ein, dass solche Statistiken auch benutzt werden können, um die kriminologische Belastung der Immigranten zu beweisen. Aber "sie belegen doch die Erfahrung der Allgegenwart von Polizei und Justiz, die auch die Mehrheit derjenigen macht, die sich nichts vorzuwerfen haben" (45).
Die Benachteiligungen machen sich bereits in der Schule bemerkbar. Von den Schülern, welche die Schule ohne Zeugnis verlassen, waren 1998 diejenigen mit maghrebinischem Hintergrund mit 43 % weit überrepräsentiert (50). Bei ihnen klaffen familiäre und schulische Kultur zu weit auseinander, "die Eltern haben nicht das Wissen, wie das Erziehungssystem funktioniert, ein Wissen, das es ihnen ermöglichen würde, ihre Kinder auf den für sie geeigneten Weg zu schicken, und in der Familie gibt es oft keine Vorbilder dafür, dass schulischer Erfolg einen weiterbringen kann". Die Massenarbeitslosigkeit bewirkt zudem, dass auch für einfachste Tätigkeiten nur diejenigen mit irgendeinem Diplom genommen werden. Schulversager müssen sich "am Ende der Warteschlange der Arbeitslosen anstellen" (50f).
Auf der Arbeit und bei der Wohnungssuche setzt sich die Diskriminierung fort. Hier sind die Statistiken am eindeutigsten. 90 % der Sozialhilfeempfänger mit Abitur, die also über die Klippe Schule erfolgreich hinweg gekommen waren, trugen arabische Namen. Nach 258 Ausschreibungen einer Stelle wurden 75 Kandidaten, die in Paris wohnten und französischer Herkunft waren, zum Vorstellungsgespräch eingeladen, aber nur 14 mit arabisch klingenden Namen (47). Namen und Wohnort der Immigrantenabkömmlinge sind, auch wenn sie die französische Staatsbürgerschaft besitzen, bereits schwer überwindbare Schranken bei der Arbeits- und Wohnungssuche, gelingt das dennoch einmal, wirkt sich das Aussehen beim Vorstellungsgespräch einmal mehr nachteilig aus. So ist eine große Zahl von ihnen dem Schicksal ausgeliefert, zu "Arbeitern ohne Arbeit" zu werden, wie Castel mit Hannah Arendt sagt, "dem Schlimmsten, das man sich vorstellen kann".
Seit dem 11.9.2001 wirkt auch die Zugehörigkeit zum Islam stigmatisierend. So addieren sich die verschiedenen Dimensionen der Diskriminierung. Sie führen bei manchen Jugendlichen auf der Suche nach der verlorenen "Respektabilität" (57) (bislang noch immer bei einer Minderheit), zu einem Rückzug auf die familiären und religiösen Traditionen. Darin liegt zunächst "nichts Subversives", es handelt sich vielmehr um "eine Aufwertung des privaten und familiären Lebensraumes kleinbürgerlicher Prägung" (ebd.). Aber sie kann unterm Druck der Diskriminierung - vor allem der Assimilierung von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit durch Polizei, Medien und einen Teil der Mehrheitsbevölkerung - im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu einer "Ethnisierung" von manchen Gruppen dieser Vorstadtjugend führen.
Die Revolte im Herbst 2005 (vgl. Arg. 263, 17f u. 271, 210ff) lässt sich Castel zufolge als "enttäuschte Beziehung zur eigenen Bürgerschaft" (59) begreifen. "Erfahren zu müssen, dass einem Arbeit aufgrund der Hautfarbe oder des Namens verweigert wird, wirft einen nicht nur auf sein Elend als Arbeitsloser zurück, sondern wird auch als tiefe Ungerechtigkeit erlebt und als Angriff auf die Würde, die jeder Mensch in einer Gesellschaft für sich beanspruchen kann, die den Respekt des Individuums zu ihrem höchsten Wert erhoben hat" (60), und so ist "die kollektive Gewalt [...] die politische Ausdrucksform der Gruppen, denen ihre Anerkennung vorenthalten wird" (61). Auf diese Weise kann selbst das Abbrennen von Autos eine Botschaft enthalten, nämlich gegen die Vorenthaltung der politischen und sozialen Bürgerrechte "die Öffentlichkeit aufzurütteln und die Polis zu mobilisieren" (62).
In ihrer gesellschaftlichen Zuschreibung als "classe dangereuse", als "gefährliche Klasse", die außerhalb der geltenden Normen steht und den Bürgern, vor allem denen, die um ihre eigene volle Zugehörigkeit bangen müssen, Angst einfl ößt, sind die Immigranten und ihre Nachkommen in die Fußstapfen der Vagabunden im vorindustriellem Zeitalter und der Proletarier während der Industrialisierung getreten. Ihre unterschiedlichen Traditionen und Gewohnheiten führen dazu, dass ihnen dazu noch der aus der Kolonialzeit stammende Stempel des "Eingeborenen", der "indigeance", aufgeprägt wird, dessen kulturelle Erbschaft als widerständig gegen alle zivilisatorischen Normen der Moderne gilt. (Von 1865 bis 1937 erhielten weniger als 2500 Algerier die volle französische Bürgerschaft; 92). Jene Eigenheiten werden von einem beträchtlichen Teil der Mehrheitsbevölkerung als unabänderlich, fast als genetisch bedingt imaginiert, im Sinne des kulturalisierten Rassebegiffs von Balibar. Auch dieses Bild widerspricht krass der Realität, denn 78 % der in Frankreich geborenen Nordafrikaner fühlen sich Frankreich näher als der Kultur ihrer Eltern, 70 % wollen Franzosen bzw. Französinnen heiraten, 64 % wären bereit, für Frankreich zu kämpfen (103).
Das Bild der Gefährlichkeit, das vor allem von der Vorstadtjugend arabo-muselmanischer Herkunft gezeichnet wird, kann dazu führen, dass einzelne Gruppen dieser Jugendlichen es übernehmen und in ihm ihre Identität auszuleben suchen. Das erinnert an Frantz Fanons Verdammte dieser Erde, ohne dass Castel dieses Werk zitiert. Jedenfalls wird klar, dass die Gefahr einer islamistischen Wendung in Frankreich durch die negative Diskriminierung mitprovoziert wird, die für eine solche Identifikation einen günstigen Nährboden abgibt.
Castel plädiert für eine "multikulturelle Republik"; sie wird nur möglich sein, wenn zur politischen Bürgerschaft auch die soziale kommt. "Es muss in dieser Bürgerschaft Platz geschaffen werden auch für rassische und religiöse Differenzen" (110). Eine Politik positiver Diskriminierung soll dazu führen, dass die Benachteiligten die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Unabhängigkeit wiederfinden (111).
Das Buch enthält im Anhang Statistiken, welche die Diskriminierung in der Schule und bei der Arbeitssuche sowie das Verhältnis zur Religion und zur kulturellen und sprachlichen Integration belegen (127-138). In Zukunft werden solche Untersuchungen schwieriger werden, nachdem das französische Verfassungsgericht die Erhebung von Daten über ethnische und religiöse Zugehörigkeit für verfassungswidrig erklärt hat, weil sie dem republikanischen Prinzip der Laizizät und dem Verbot ethnischer und rassischer Diskriminierung zuwiderliefen. Damit wird der Forschung der präziseste Teil des Instrumentariums entzogen, das die Diskriminierungen nachzuweisen erlaubt - nur auf Umwegen (etwa über die Adressen) wird das künftig noch möglich sein. Während des Präsidentschaftswahlkampfes wurde bereits deutlich, dass schon als politisch inkorrekt gelten kann, die äußeren Merkmale, an denen solche Diskriminierungen sich festmachen, mit Worten zu benennen. Als Alain Krivine, ein hochbetagter Trotzkist, mit Rachida Dati, der Sprecherin Sarkozys, die dieser dann zur Justizministerin ernannt hat, über das Thema diskutieren wollte, zieh sie ihn des Rassismus, als er nachweisen wollte, dass "dunkelhäutigere" Menschen bei der Arbeits- und Wohnungssuche benachteiligt werden. "Sie sollten sich schämen, ein solches Wort zu benutzen", sagte sie. Dieser Vorwurf der etwas dunkelhäutigen Tochter eines immigrierten Algeriers kam bei den Zuschauern gut an. Krivine, dem so schnell keine Entgegnung einfiel, gab mit einer resignierenden Geste auf. Diese Entwicklung belegt, wie wichtig Castels Buch ist - ein sprachästhetisches Vergnügen, völlig frei vom Manierismus und von der üblichen Selbstbespiegelung vieler Pariser Intellektueller.
Erich Wulff