Helma Lutz u. Kathrin Gawarecki (Hg.): Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft. Münster 2005. 206 S.
Anders als Deutschland, wo die kurze koloniale Expansion oft als Erklärung für die mangelnde Präsenz des Kolonialismus in der Öffentlichkeit herangezogen wird, haben es die Niederlande mit Jahrhunderten kolonialer Vergangenheit zu tun; auch fanden in jüngster Zeit wichtige öffentliche Auseinandersetzungen um das Erbe des Kolonialismus statt. Zur deutschen Kolonialherrschaft in Namibia (Deutsch-Südwestafrika) und zum Völkermord an den Herero und Nama sind in den letzen Jahren kritische Sammelbände und Monographien erschienen (exzellent v.a. Zeller/Zimmerer: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, 2003).
Überblicksartig resümiert Reinhart Kößler den Forschungsstand und betont die engen Zusammenhänge zwischen kolonialem Völkermord und Holocaust. Anne Kerber untersucht die Kolonialismus-Rezeption in Geschichte-Schulbüchern. Es dominiere nach wie vor ein dichotomes Bild von "modernem Europa" und "traditionellem Afrika". Sie schlägt vor, Anknüpfungspunkte zwischen der kolonialen Vergangenheit und der heutigen Lebenswelt der Jugendlichen stärker im Geschichtsunterricht zu berücksichtigen, und plädiert für einen Ausbau weltgeschichtlicher Perspektiven mit dem Ziel, "ein Bewusstsein welthistorischer Zusammenhänge im Sinne einer allgemeinen Geschichte der Menschheit zu fördern" (92).
Ausgehend von der Diversität der westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften, die die traditionelle national orientierte Erinnerungskultur zunehmend problematisch erscheinen lassen, plädiert Rudolf Leiprecht dafür, "eine Orientierung an gemeinsamen Zukunftszielen, die der Würde des Menschen und den Menschenrechten als Minimalstandards verpflichtet sind" (100), als Ausgangpunkt zu nehmen. Angesichts der Verflechtung von Antisemitismus und kolonialem Rassismus komme es darauf an, "antirassistische Pädagogik mit Bildungsprozessen zu Holocaust und Kolonialismus in konstruktiver Weise zu verbinden" (107). - Die Problematik nationaler Erinnerungskulturen im ›Zeitalter der Globalisierung‹ diskutieren Micha Brumlik und Hasko Zimmer in Anknüpfung an Daniel Levys und Natan Sznaiders Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust (2001). In internationalen erinnerungspolitischen Diskursen diene der Holocaust, "als gleichsam negative Folie, als unüberbietbares Extrembeispiel für die Verletzung der Würde des Menschen" (Brumlik, 56); im selben Ausmaß jedoch "steigt umgekehrt die Ablehnung dieser Form der Gedenkkultur und werden jene, die dem Holocaust zum Opfer fi elen, bzw. deren Nachkommen, gelegentlich selbst zur Zielscheibe des Hasses" (62). Wie lässt sich also "eine weltweite antirassistische Bildung in universalistischer, nicht ihrerseits Ressentiments schürender Weise konzipieren?" (63). Brumlik sieht Ansatzpunkte im Slave-Route-Projekt der Unesco, das durch Auseinandersetzung mit dem transatlantischen Sklavenhandel "eine universalistische und universale Erziehung zur Achtung der Menschenrechte zu begründen und umzusetzen" (65) versucht.
Gert Oostindie zeigt, wie der Kolonialismus trotz seiner epochalen Dauer lange Zeit nicht im Zentrum des öffentlichen Bewusstseins in den Niederlanden stand. Die nationale Erinnerung nach dem Zweiten Weltkrieg war dominiert vom ›Goldenen Zeitalter‹ und der deutschen Besatzung. Erst mit der massenhaften Einwanderung von Menschen aus den ehemaligen Kolonien wurde die koloniale Vergangenheit Gegenstand breiter Auseinandersetzung. Während die Mehrzahl aus Indonesien zu vom Kolonialismus privilegierten Gruppen (und somit zu ›Verlierern‹ der Entkolonialisierung) gehörten, waren die aus der Karibik Stammenden zum Großteil Sklaven-Nachfahren sowie asiatische Vertragsarbeiter. Gerade die Sklaven-Nachfahren forderten "ein Bekenntnis zu Schuld und Reue" (50). Daher ist die Erinnerung an den ›westindischen‹ Kolonialismus durch Kritik und Scham bestimmt, während die Erinnerung an die Kolonien im Osten eher nostalgisch geprägt ist. Dies wird bestätigt durch den Beitrag von Gawarecki, die Zeitungsartikel anlässlich des 400. Jahrestages der Gründung der Ostindischen Kompanie (VOC) im Jahre 1602 analysiert: Der Kolonialismus wird "in den untersuchten Zeitungen nicht zum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung. Nur in seltenen Fällen wird die VOC-Vergangenheit überhaupt als koloniale Vergangenheit wahrgenommen" (172). Die Darstellungen seien "geprägt von einem kolonialen Blick": Während die Angestellten der VOC als historische Persönlichkeiten in Erscheinung treten, bleiben ihre Gegenüber, die Einheimischen, "geschichts- und gesichtslos" (173), ihre Erfahrungen und Erzählungen werden abgewertet oder ignoriert. Frank van Vree stellt in einem Abriss visueller Erinnerungskultur zwischen 1945 und 1995 die Verbindung zwischen der Erinnerung an die nationalsozialistische Besatzung und den Kolonialismus her. Wie seine Analyse der Dokumentarserie von Loe de Jong, Die Bezetting (Die Besatzung) (1960-65), zeigt, war die niederländische Besatzungserinnerung bis in die 60er Jahre von einem nationalistischen Opfermythos geprägt. Die Niederländer erschienen als "ein unschuldiges und unwissendes Volk" (183).
Erst Ende der 1960er beginnt die Auseinandersetzung mit den Kolonialverbrechen; doch erst der Dokumentarfi lm Moeder Dao (1995) des Regisseurs Vincent Monnikendam bricht mit dem Bild einer verhältnismäßig harmonischen Kolonialgesellschaft. Ihm gelingt es, die Bilder "aus ihrem [...] Kontext zu lösen, um sie anschließend in einer geschickten Umkehrung [...] gegen sich selbst einzusetzen. Die [...] optimistische und rechtfertigende Geschichte [...], die diese zweihundert Filme erzählt haben, wird mit denselben Bildern, aber durch eine neue Montage untergraben" (Delpeut, 200).
Pamela Pattynama schreibt über Hella S. Haases Roman Sleutelook (Schlüsselloch, 2002), der die Erinnerung an ›Indien‹ als ambivalent, vielschichtig, widersprüchlich vorführt. Die koloniale Gesellschaft wird als "contact zone" dargestellt, geprägt durch Vermischung zwischen Kulturen, doch unter Bedingungen kolonialer Machtverhältnisse. Zwar beinhalte "Sleuteloog [...] noch immer die koloniale Auffassung vom unbegreiflichen asiatischen Anderen" (125), doch zentral sei "eine selbstreflexive Suche nach dem eigenen Ich", das sich durch die konfrontierende Selbstreflexion als "ungreifbar und der Erkenntnis unzugänglich" erweist (125).
Angesichts der Breite des Themas sind Leerstellen unvermeidbar. Einige erscheinen problematisch. Hinsichtlich der Niederlande liegt der Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit europäisch-niederländischen Perspektiven; Stimmen der ›Kolonisierten‹ und ihrer Nachfahren kommen kaum vor; so wird der Protest molukkischer Aktivisten in den Niederlanden in den 70er Jahren zwar erwähnt, jedoch wird nicht weiter auf dessen Inhalt eingegangen. Auch die westindische Perspektive kommt zu kurz, trotz der großen Zahl westindischer Einwanderer. Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem deutschen kolonialen Erbe hat Frank van Vree auf der Tagung die Frage gestellt (die Matthias Heyl in seinem Beitrag aufgreift), warum die Idee einer deutschen Kolonisierung Osteuropas nicht thematisiert wurde. Die lange Geschichte deutscher Siedlungsexpansion bis zur Geo- und Bevölkerungspolitik der Nazis wirft wichtige Fragen für ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und NS-Vernichtungskrieg auf. In diesem Zusammenhang könnte auch das Verhältnis zwischen deutscher "Erinnerungskultur" und der Erinnerungskultur der von NS-Deutschland besetzten Staaten sowie die Sicht süd-, südost- oder osteuropäischer Einwanderer in Deutschland auf die deutsche und europäische Vergangenheit neu beleuchtet werden. - Insgesamt bietet der Band weniger eindeutige Antworten (z.B. auf die Frage, ob und wie von den Niederlanden gelernt werden kann) als Anregungen zum Weiterdenken und Weiterforschen sowie für die erinnerungspädagogische Praxis.
Dagmar Engelken