Lars Bretthauer, Alexander Gallas, John Kannankulam u. Ingo Stützle (Hg.), Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie. Hamburg 2006. 332 S.
Hg. wollen zeigen, welche Berechtigung das wieder erstarkte Interesse an Theorie und Werk Poulantzas' in der akademischen Linken sowie in der globalisierungskritischen Bewegung hat. Mit Althusser wird zu einer "symptomalen Lektüre" (21) aufgerufen zu dem Zweck, sich "die begrifflichen Mittel einer Kritik des gesellschaftlichen Status Quo [anzueignen]" (23). Wie die Hg. überzeugend zeigen, fordert Poulantzas durch sein Denken zu einer solchen theoretischen Praxis auf.
Der Band gliedert sich in mehrere Blöcke: Ontologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen; Poulantzas' Verständnis von Macht und Herrschaft im Kapitalismus und der Rolle des Staates; die raum-zeitliche Dimension kapitalistischer Staatlichkeit; schließlich der Einfluss der spezifischen Beziehung von Staat und Produktionsweise im Kapitalismus für die Formierung politischer Kräfte und ihrer Strategien zur Transformation von Staat und Gesellschaft. Im Zentrum steht die Frage, wie die Beziehung zwischen Ökonomie und Politik bzw. Staat in der kapitalistischen Produktionsweise zu denken ist. Exemplarisch seien einige Beiträge herausgegriffen: Clyde W. Barrows Kernfrage lautet, ob der auch von Miliband vorgebrachte Vorwurf des "strukturellen Abstraktionismus" an Poulantzas berechtigt ist. Ausgehend von einer Analyse der epistemologischen Voraussetzungen in Politische Macht und gesellschaftliche Klassen ordnet er Poulantzas dem "historisch-strukturalistischen bzw. Klassenkampfansatz " zu, mit dem dieser sich von Anfang an vom "strukturalistischen Abstraktionismus" Althussers und dessen Formalismus und Ökonomismus (40f) sowie vom "technologischen Determinismus" eines Göran Therborn unterschieden habe, wobei er die Notwendigkeit einer expliziten Abgrenzung erst nach den Erfahrungen des Pariser Mai 1968 erkannt habe. Weiterhin stellt er die These auf, dass sich bei Poulantzas eine "bemerkenswerte Kontinuität bzgl. des kapitalistischen Staates" finden lasse, "wenn man den Fokus der Analyse von der methodologischen auf die begriffliche Ebene verschiebt" (35). Poulantzas' Überlegungen ermöglichten - sowohl in der Analyse untergegangener Formationen als auch im Hinblick auf die politisch-strategische Aufstellung - das Denken eines Übergangs zu einer neuen Staatsform. Dabei könne "das Ziel [...] nicht darin bestehen, den kapitalistischen Staat zu erobern oder schlichtweg sein Personal auszuwechseln. Das Ziel besteht darin, seine strukturelle Konfiguration als Apparat und dessen Verhältnis zur Produktionsweise und den Klassenbeziehungen umzuwälzen" (45).
Bob Jessop beschäftigt sich mit fünf Aspekten: (1) der Entwicklung der Theorie über den kapitalistischen Staatstyp bei Poulantzas und die zwei unterschiedlichen Analyseformen in den jeweiligen Werken, (2) dem Staat als gesellschaftlichem Verhältnis, (3) dem Inhalt der Staatstheorie, (4) der Frage nach der Entwicklung hin zu einem neuen Ausnahmestaat und (5) dem "autoritären Etatismus" (Staatspartei, Massen, Verwaltung, Apparate). Er benennt dabei vier Probleme in Poulantzas' Analyse: (1) Ein ungenauer Umgang mit dem Begriff "Krise der Hegemonie", (2) die Frage nach der Artikulation von ausnahmeförmigen mit "normalen" Elementen von Staatlichkeit (autoritärer Etatismus und demokratische Normalität), (3) das fehlende Verständnis, dass aus der Krise des fordistisch-keynesianischen Wohlfahrtsstaates als neues Regime der Neoliberalismus entstand und die Arbeiterklasse aus dieser Krise eher geschwächt als gestärkt hervorging, und (4) die Beibehaltung des Nationalstaates als dominierenden Maßstab. Jessop stellt hier anachronistische Erwartungen an Poulantzas, der 1979 starb. Die Herausbildung einer neuen stabilen Formation war damals keineswegs absehbar.
Ähnlich verhält es sich mit Jessops Fazit, Poulantzas habe die Entstehung und tatsächliche spätere Entwicklung des autoritären Etatismus nicht erklären können. So seien Poulantzas letztlich drei weitere Entwicklungslinien des Gegenwartskapitalismus entgangen: die Veränderungen in der allgemeinen Dynamik der Kapitalakkumulation hin zur Dominanz des Finanzsektors, die Neuausrichtung von Staatsapparaten und Staatsmacht durch die Globalisierung und die politische Netzwerkbildung, d.h. eine andere, dezentrale Form des Regierens (62f).
Neben den Beiträgen, welche die Anwendbarkeit des staatstheoretischen Ansatzes von Poulantzas auf die Veränderungen innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens behandeln (Rechts- und Geschlechterverhältnisse), zeigen andere, dass sich die Beschäftigung mit ihm auch in Bezug auf die globalen Entwicklungen lohnt. So untersucht Hans-Jürgen Bieling, ob Poulantzas' Staatstheorie auch für die Entstehung von Formen europäischer Staatlichkeit fruchtbar gemacht werden kann, und Jens Wissel nimmt die veränderten globalen Machtverhältnisse zum Anlass, eine Transnationalisierung des Widerstands zu fordern. Fraglich bleibt jedoch, ob die Transnationalisierung der Bourgeoisie tatsächlich eine neue Qualität (248) enthält, ob es sich in Anlehnung an Hardts und Negris Empire um ein "transnationales Imperium" (252) handelt oder ob die Tendenz nicht eher wieder in Richtung einer multipolaren Weltordnung geht.
Bemerkenswert sind auch die Ausführungen von Ulrich Brand und Miriam Heigl, die mit Hilfe von Poulantzas' Auffassung vom Verhältnis von Staat bzw. Partei und sozialer Bewegung die neoliberale Privatisierungspolitik und die Kämpfe dagegen analysieren und für eine Strategie der "radikalen Transformation" werben, die sich auf eine "Doppelstrategie " (278) in dem und gegen den Staat beläuft. - Die Beiträge zeigen, dass Poulantzas' Werk zum Bestand des "strategischen Wissens" zählt, mit dem die kapitalismuskritische Bewegung den Gegenwartskapitalismus nicht nur besser zu analysieren, sondern auch Strategien zu entwickeln vermag, um auf seine Überwindung hinzuwirken.
Florian Flörsheimer