Alex Demirovic: Nicos Poulantzas. Aktualität und Probleme materialistischer Staatstheorie. Münster 2007. 295 S.
Die Neuauflage des erstmals 1987 bei Argument erschienen Buches, das grundlegend in die verschiedenen Etappen und Problemstellungen der poulantzasschen Theorie einführt, ist gründlich überarbeitet und nimmt die wiederauflebende Diskussion um Poulantzas auf. In einem neuen zweiten Teil beschäftigt Verf. sich mit dem Verhältnis von formanalytischen Theoremen zur Argumentation von Poulantzas sowie dem Begriff der Verdichtung. Im ersten Teil arbeitet Verf. deutlicher als in der 1. Auflage die Problematik des relationalen Staatsverständnisses heraus.
Er kritisiert, dass sich Poulantzas zwar von seinem frühen strukturalistisch-funktionalistischen Staatsverständnis löst, wonach der Staat der Kohäsionsfaktor der klassengespaltenen kapitalistischen Gesellschaftsformation ist, er aber sein spätes Verständnis des Staates als gesellschaftliches Verhältnis nicht konsequent zu Ende entwickelt hat. Auch wenn Poulantzas sich auf Gramsci bezieht, wonach das Staatsleben "als ein ständiges Sich-Bilden und Überwinden von instabilen Gleichgewichtszuständen" aufzufassen ist, zieht er dennoch nicht "die entsprechenden Schlussfolgerungen, die darin bestünden, den Staat insgesamt als ein jeweiliges instabiles Kompromissgleichgewicht zu verstehen" (102). Dies führt zusammen mit der Zurückweisung von Gramscis Zivilgesellschaftsbegriff (122) schließlich zu Unklarheiten in der Auffassung des Staates als "materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen". Ungeklärt bleibt laut Verf. die Frage der Beziehung von Kräfteverhältnissen und gesellschaftlichen (Klassen-)Kämpfen zur Materialität des Staates. Denn auch wenn der Staat die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses sein soll, soll dieses "das materielle Gerüst des Staates nicht direkt berühren" (119). Somit wird nahegelegt, dass "es sich bei diesem harten Kern in den Staatsapparaten, der nicht unmittelbar in einem Kräfteverhältnis aufgeht, um die Verwaltung handelt" (ebd.). Dementgegen vertritt Verf. die These, Poulantzas hätte ohne weiteres auch "die Verwaltung, die den Staatsapparaten ihre Dichte und Widerstandskraft gegen Veränderungen der Kräfteverhältnisse verleiht, als eine Verdichtung von Kräfteverhältnissen [...] analysieren können" (120). So kommt der Verwaltung mit ihrer Amtshierarchie und dem Berufsbeamtentum tatsächlich ein starkes Verzögerungsmoment gegenüber den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu. Dennoch sei auch die bürokratische Sachrationalität ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis, in dem zwar dauerhafte Dispositive geschaffen und erhalten werden, die jedoch nicht außerhalb der Kräfteverhältnisse stehen, sondern selbst wiederum auf die Kräfteverhältnisse einwirken. "Wenn etwas aufrechterhalten wird, dann nur, weil es dafür entsprechende Entscheidungen und entsprechende politische Diskussionen und Strategien an den Schaltstellen staatlicher Macht und im Umfeld des Staates gibt. Dies gilt grundsätzlich sogar für die Existenz von ›Staat‹ selbst." (122) Verf. vertritt die These, dass Poulantzas mit dem Begriff der Verdichtung einen Hinweis auf die Lösung des Problems gibt, wie die Materialität des vom Staat garantierten langfristigen Gesamtinteresses mit Kontingenzannahmen zusammengebracht werden kann. Somit trägt der Prozess der Verdichtung eine "enorme theoretische Last - und umso bedauerlicher ist es, dass Poulantzas diesen Begriff nicht genauer expliziert und zum Gegenstand konkreter Analysen gemacht hat" (126).
Der zweite Teil widmet sich genau dieser Problematik. Unter Rückgriff auf die zu Poulantzas Zeiten diskutierten Überlegungen von Jacobson, Freud, Althusser und Foucault entwickelt Verf. hier Elemente einer Theorie der Verdichtung ausgehend von Freuds Unterscheidung zwischen Trauminhalt und Traumgedanken. Letzterer ist "wesentlich umfangreicher [...] als der eher lakonische Trauminhalt", der Ergebnis einer Verdichtungsarbeit des Unbewussten ist, "durch die nur wenige Traumgedanken im Traum vertreten sind" (ebd.). Der Inhalt stellt als Verdichtung jedoch nicht eine "Bündelung" oder einfache Zusammenfassung dar, sondern, so Freud, "die ganze Masse der Traumgedanken unterliegt einer gewissen Bearbeitung, nach welcher die meist- und bestunterstützten Elemente sich für den Eintritt in den Trauminhalt herausheben" (228). Für die Staatstheorie bedeutet diese von Althusser weiterentwickelte Annahme, dass sich im Staat alle gesellschaftlichen Widersprüche in verschobener und verdichteter Weise wiederfinden (236). So kann ein einzelner Staatsapparat viele verschiedene Widersprüche bündeln, und ein anderer bearbeitet nur einen einzigen, der zugleich in anderen Staatsapparaten Gegenstand politischer Bearbeitung ist. "Dies kann zu uneinheitlichen und widersprüchlichen Politiken innerhalb eines oder mehrerer Staatsapparate führen." (237) Somit wird "begreiflich, dass konfliktreiche, uneinheitliche, widersprüchliche, paradoxe Politikverläufe zufällige Auswirkungen auf die Kräfteverhältnisse haben, aber selbst kein Zufall sind" (ebd.).
Neben der Verdichtungsproblematik behandelt Verf. noch die Frage einer neuen Staatsform (243ff) mit besonderem Augenmerk auf die Frage, ob der kapitalistische Staat notwendig die Form des Nationalstaats annehmen muss, sowie die Frage der formanalytischen Begründung des Staates (199ff). Auch Verf. sieht das Problem, wonach Poulantzas wie Eugen Paschukanis und die formanalytischen Versuche zur Ableitung des Staates mit seinen Überlegungen vor der grundlegenden Frage steht, "zu erklären, warum die Kapitaleigner sich nicht auf private Formen der Herrschaft beschränkt haben" (215). Gleichwohl kritisiert Verf. an den Versuchen, den klassen- und herrschaftstheoretischen Ansatz Poulantzas' mit der marxschen Formanalyse zusammenzubringen, die These der notwendigen Besonderung des Staates gegenüber der Ökonomie und der Gesellschaft, da dies zu theoretischen Zweideutigkeiten führe (212). Denn "wird gesagt, dass der Staat sich getrennt von den Klassen herausbildet und in einem widersprüchlichen Verhältnis zu ihnen steht, besteht die Gefahr, ihn neopluralistisch als eine Art neutrale Arena für die Verfolgung unterschiedlicher Interessen" aufzufassen (212f). Darüber hinaus stelle sich dabei wieder das "Problem mit Nachdruck, das sich als eine der entscheidenden Schwächen von Poulantzas erwiesen hat: wie nämlich aus der mikropolitischen Diversität bürgerlicher Klasseninteressen eine makropolitische Allgemeinheit hervorgeht" (213).
Verf. tendiert dazu, das aufgeworfene Problem handlungstheoretisch aufzulösen. So ist es sicherlich richtig, dass die problematischen Folgen kapitalistischer Vergesellschaftung von Sozialreformern schon früh gesehen wurden und einzelne Kapitaleigner Anstrengungen unternahmen, dem entgegenzuwirken. Es ist auch nachvollziehbar, dass diesen Kapitaleignern daraus - was jedoch nicht festgeschrieben ist - Wettbewerbsnachteile erwuchsen, und sie deshalb "ergänzend zu betrieblichen [...] und getrennt von ihnen für alle zugängliche öffentliche Monopole der Gewalt, der Daseinsvorsorge, der öffentlichen Kommunikation oder des verbindlichen Wissens" schufen (216). Dies erklärt aber nicht die von Paschukanis aufgeworfene Frage nach dem systematischen Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise und der notwendigen Trennung/Besonderung politischer Herrschaft, warum also diese im Kapitalismus die spezifische Form des von den Produktionsverhältnissen getrennten Staates annimmt. Die Unentschiedenheit von Poulantzas' Argumentation zur Materialität des Staates verweist auf den Sachverhalt, dass diese dem Wandel der Kräfteverhältnisse nicht nur in einer zeitlichen Dimension enthoben sind. Vielmehr bewegen sich die gesellschaftlichen Kämpfe in ihrer spezifischen institutionell-bürokratischen Materialität selbst innerhalb eines formbestimmten Zusammenhangs, der, mit Marx gesprochen, die "bestimmte Beleuchtung" ist, "worin alle übrigen Farben getaucht sind und sie in ihrer Besonderheit modifiziert" (MEW 42, 41). Poulantzas' Unentschiedenheit verweist darauf, dass die Besonderung des Staates von der Ökonomie die strukturelle Voraussetzung der Reproduktion dieser Produktionsweise ist, deren Erfolg jedoch keinesfalls garantiert ist. Im Gegenteil: in den zyklisch wiederkehrenden Krisen besteht die grundsätzliche Gefahr oder Möglichkeit, dass den Formprinzipien zuwider gehandelt wird und bspw. einzelne Kapitalfraktionen sich des Staates bemächtigen und somit die Kapitalreproduktion insgesamt gefährdet ist. Die Besonderung des Staates von der Ökonomie wird durch das Handeln der gesellschaftlichen Akteure in der Regel - da zunächst einmal ihre materielle Existenz davon abhängt - auch anerkannt und permanent wiederhergestellt. Gleichzeitig ist sie die "Bewegungsform " der gesellschaftlichen Widersprüche. Dies birgt immer auch die Möglichkeit in sich, dass die Form die Widersprüche nicht mehr hinlänglich prozessieren kann und die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt zur Disposition steht. Poulantzas' Insistieren auf der Materialität des Staates verweist genau hierauf, dass unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen nicht alles disponibel ist. Die Staatsapparate in ihrer spezifischen Materialität tragen durch Mechanismen der "strukturellen Selektivität" zur Reproduktion der Produktionsweise bei. Wenn dies nicht mehr gelingen sollte, ist möglicherweise der Kapitalismus und die mit ihm einhergehende spezifische Form politischer Herrschaft überwunden.
John Kannankulam