Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt/M 2008. 136 S.

Verf. versucht, den Begriff der Kritik zu aktualisieren, indem er ihn durch einen der Moderne ›angemessenen‹ Begriff der Kulturkritik ersetzt. Das scheint ihm notwendig, weil allerorten von der "Krise der Kritik" zu hören sei. Dieser Behauptung entgegnet er mit der These, "dass die Kritik weder gefährdet ist noch verschwindet", sondern eben dabei sei, "sich in Kulturkritik zu verwandeln" (7). Genau besehen erfreue sie sich bester Gesundheit, denn, so die zweite These, nur eine bestimmte Variante drohe zu verschwinden: "In die Krise geraten ist eine Kritik, die sich als Inhaberin des überlegenen Standpunktes wähnte [...], der sich klassischerweise auf Mastersubjekte wie die Wahrheit, die Vernunft und die Geschichte berief." (7) Moderne Kritik dagegen sei vielmehr "postrestitutiv", d.h. sie dient nicht mehr der Wiederherstellung "wahrer Ordnungen" (8) - worin sich ihr demokratischer, pluralistischer Charakter ausdrücke. So ist bereits nach wenigen Absätzen absehbar, in welche Richtung die Reise geht. Verf. segelt in den Fahrwassern des "postmodernen" Diskurses, der die "großen Erzählungen" verabschiedet hat und keine Orientierung mehr in als metaphysisch identifizierten Konzepten wie "Wahrheit" oder "Geschichte" suchen will.
Charakteristisch für die gegenwärtige westliche Kultur ist laut Verf., dass sie ihrer "Eindeutigkeit" verlustig gegangen sei - was freilich nicht heiße, dass die "Flüchtigkeit der Geltungen" (10) zu betrauern wäre: "Die Zeichensysteme und Kommunikationsverhältnisse der westlich geprägten Kulturen [...] sind dynamisch, sie sind situationsbezogen und komplex. Die dominante Erfahrung [...] ist [...] die Diversifikation in der Zeit - das Abreißen von Traditionen, die Ablösung von Geltungen, die Emphase des Neuen." (12) Solch eine Kultur kann keine "Leitkultur" haben. Ihr Erscheinungsbild findet seine Entsprechung in ihrer Kritik. Sie "hat tausend Gesichter, und sie ist überall" (134), bedient sich aller möglichen Medien, ist in der Popkultur ebenso anzutreffen wie in der akademischen Abhandlung, und sie hat vor allem keinen festen Standpunkt. Und obgleich sie die Dynamiken moderner Kultur in Zweifel zieht, besteht "ihre tiefe, charakteristisch moderne und prinzipiell unaufhebbare Paradoxie [...] darin, fortgesetzt selbst mit voranzutreiben, was sie anprangert und verwirft, um auf diese Weise die Krisen und Umbrüche, die sie doch zugleich beklagt, zu normalisieren" (12). In der "Genealogie" des modernen Kritikbegriffs sieht Verf. den Prototyp "postrestitutiver" Kulturkritik bei Rousseau: Zwar kritisiert dieser die Kultur radikal, aber zugleich ist er sich bewusst, dass es kein Zurück aus ihr gibt und dass seine Kritik "die Abgründigkeit dieser Paradoxie weder zu lindern noch gar aufzuheben vermag" (91). Mit dieser Deutung Rousseaus nimmt Verf. innerhalb des postmodernen Diskurses, dessen ›Helden‹ - etwa Nietzsche - in der Regel chronologisch später auftreten, eine originäre Position ein. Der Rückgriff auf Rousseau scheint auch der Grund zu sein, dass Verf. stets von "Moderne" und nicht von Postmoderne spricht: Diese Unterscheidung geht für ihn fehl, eben weil er die Wurzeln "postrestitutiver" Kulturkritik bereits im 18. Jh. ortet.
Aus der Perspektive kritischer Theorie interessant ist v.a. der Angriff auf vermeintlich vormoderne Konzepte wie Gesellschafts- oder Ideologiekritik: "Der Ideologiekritiker ist von Haus aus Hierarch, denn er verfügt über eine solide Wertordnung und glaubt zu wissen, was die Dinge jenseits ihrer Verlarvungen, Entstellungen und Maskeraden in Wahrheit zu bedeuten haben" (124). Während moderne Kulturkritik notwendig immanent sei, nähmen Ideologiekritiker wie Adorno die "Ebene der Transzendentalität in Anspruch [...], die den Horizont des philosophisch Begründbaren in Richtung Theologie überschreitet" und das "Restitutionsmotiv" reaktiviert (124). Mit dieser Kritik reproduziert Verf. eine im Poststrukturalismus gängige Dialektik-Kritik, die man beispielsweise bei Deleuze findet: Zwar habe dialektische Kritik den Anspruch, immanent zu sein, faktisch aber sei sie transzendent, weil sie die Widersprüche stets in eine höhere Ebene auflöse, sodass sie den "transzendenten Ballast" einer "absoluten Wahrheit" (die vielleicht auch in Form der "Wahrheit der Geschichte" daherkommt) implizit mit sich schleppe. Adorno lässt sich so als Metaphysiker denunzieren - und damit glaubt Verf., in einem Schwung alle Ansätze einer Ideologie- und Gesellschaftskritik entsorgen zu können. Dass diese Kritik kaum systematisch ausgearbeitet wird, deutet darauf hin, dass hier kurzerhand eine Tradition verworfen werden soll, die dem eigenen Ansatz entgegensteht, ohne dass eine ernsthafte  theoretische Auseinandersetzung gesucht wird. Ärgerlich ist zudem, wie verschwenderisch Verf. mit Namen um sich wirft, ohne dass es dem Argumentationsgang dient. Das ist bloße Rhetorik - und passt übrigens zu dem Urteil, dass nach Verf. moderne, "postrestitutive" Kritik eben im Wesentlichen rhetorischen Charakters ist.
Daniel Hackbarth (Stuttgart)

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 416-418