Héctor Díaz-Polanco: Elogio de la diversidad. Globalización, multiculturalismo y etnofagia. México D.F. 2006, 2. Auflage 2007. 224 S.

Der Aufbruch der indianischen Völker Lateinamerikas, in Mexiko v.a. der zapatistische Aufstand von 1994, hat den politischen Frontverlauf und damit das intellektuelle Klima in vielen Ländern Lateinamerikas nachdrücklich verändert. Während nicht wenige linke Intellektuelle sich auf die Suche nach einer lateinamerikanischen Identität begaben, die sich von der europäischen essenziell absetzen soll (etwa Enrique Dussell), unternahm Díaz-Polanco, der sich schon zuvor mit Autonomiebewegungen befasst hatte, im Blick auf die Zapatistas den kontroversen Versuch, den romantischen Volksbegriff mit der Perspektive allgemeiner politischer Emanzipation im Geiste der Französischen Revolution zu versöhnen (vgl. jungle-world.com/artikel/2003/52/12027.html).

Inzwischen haben die politischen Durchbrüche indigener Bewegungen in Bolivien und Ecuador der Frage nach den "Beziehungen zwischen soziokultureller Pluralität und globalisierter Gesellschaft" (9) eine übergreifende Brisanz verliehen. Die gegen die Indiobewegungen gerichtete Feinderklärung seitens des National Intelligence Council (NIC) der USA (185ff) definiert den Einsatz des vorliegenden Versuchs von der Gegenseite her.
Im "neuerlichen identitären Eifer" (141) der indigenen Völker, diesen "grupos identitarios " (173), sieht Verf. den Ausdruck ihrer Krise angesichts der zersetzenden Einflüsse der kapitalistischen Globalisierung (141), abzulesen an Landflucht und Entvölkerung der Dörfer "von ihren produktiven Mitgliedern" (142). Gestützt auf Jameson, Žižek und (kritisch) Hardt/Negri, merkwürdigerweise auch auf Gadamer, dem eines der beiden vorangestellten Motti entnommen ist, möchte er mit seinem "Lob der (kulturellen) Verschiedenheit" "zum Verständnis der globalen Mechanik des kapitalistischen Systems in Bezug auf die Diversität beitragen; oder, anders gesagt, wie der Kapitalismus darauf abzielt, das Spiel menschlicher Vielfalt in eine kolossale Maschinerie entfremdeter ›Diversität‹ zu verwandeln" (11). Komplementäres Generalthema ist die Kritik des "abstrakten Universalismus" liberaler Provenienz, die "obszöne Abwesenheit des Anderen [...] eines so partikularen kulturellen Systems wie desjenigen, das wir den Westen nennen" (12).
Die Gegenwart sieht Verf. durch einen weltweiten "Kampf der Identitäten" bestimmt (157), was stillschweigend die us-amerikanische Proklamation des "Kampfes der Kulturen" aufnimmt (vgl. 21). Vom Standpunkt kapitalistischer Globalisierung müssen demnach ethnische Identitäten zerstört werden, sofern sie - wie bei den Indiovölkern Lateinamerikas der Fall - eine "solide Gemeinschaftsbasis" ("fundamento comunitario") haben, die sie zum Widerstand befähigt (157). Hier schlägt Verf. die Brücke zum islamischen Fundamentalismus, ohne sich über dessen reaktionäre Zielrichtungen den Kopf zu zerbrechen.
Die ersten sechs der insgesamt zehn Kapitel gehen von der sprachlich verkörperten kulturellen Diversität und dem liberalen Umgang mit ihr über die kommunitaristische Liberalismus-Kritik zum Verhältnis von Universalismus und Pluralismus, um dann nach dem Verhältnis von Globalisierung und Identität zu fragen (Kap. 7). Als konzeptiven Ideologen der völkerverschlingenden "Inklusion der Identitäten" behandelt Verf. vor allem John Rawls und dessen Adaptierung der kantschen Ethik (Kap. 3 u. 4). Den berühmten "Schleier der Unwissenheit", der durch Differenzblindheit ›Gerechtigkeit‹ in Form von Allgemeinheit gewährleisten soll, entziffert er dabei als Negation der Alterität. Die letzten Philosophie 419 drei Kapitel widmen sich dem "Prozess der Ethnophagie im Imperium" (Kap. 8), der "Kritik des Multikulturalismus" (Kap. 9) und den identitätspolitischen Aufgaben der Linken (Kap. 10).
Unter "Ethnophagie" - wörtlich "Völkerfresserei" - versteht Verf. die Auflösung traditioneller ›ethnischer‹ Identitäten durch die kapitalistische Globalisierung (160). Das genaue Wie dieser Auflösung durch politisch entfesselte Marktkräfte analysiert er allerdings nicht. Ihm genügt der Nachweis transnationaler Profitstrategien mittels des "multikulturellen Marketings der Großkonzerne" (167) am Beispiel des in der Telekommunikation weltweit aktiven US-Konzerns Verizon Communications (169f), der sein öffentliches Bild darüber konstruiert, "how diversity plays an important part in our culture" (www.verizon.com/ careers). Als epochal herrschende und im Vergleich zu früheren Phasen subtilere politische Methode solcher Identitätszerstörung benennt er den "Multikulturalismus", weil dieser durch "exaltación de la diferencia" das ethnisch Andere ("lo Otro") in die "imperiale" Ordnung des Kapitalismus hinein verführt und entkernt (164ff). "Multikulturelle Toleranz ist intolerant gegenüber dem wahrhaft Anderen" (182). Staatlichen Schutz der Identität indianischer Völker entlarvt er als Taktik der "fünften Kolonne" in Gestalt umgedrehter indianischer Führer, denen der Raum genommen wird, "indigene Intellektuelle" zu sein, und die statt dessen zu "Ideologen und Agenten der neuen indigenistischen Praktiken" gemacht werden (161), die in die Strategie des "indigenismo etnófago" (162) einmünden.
Während Naomi Klein (Fences Windows, 2002) die neoliberale Ökonomie als einen "Krieg gegen die Diversität" begreift, hebt Žižek die Diversifizierung als Strategie des transnationalen Kapitals hervor. Der mit allen Wassern der internationalen Diskussion über Identität gewaschene Verf. versucht, diesen Gegensatz aufzulösen. Dabei verwickelt er sich in Widersprüche oder verfängt sich im Einerseits-Andererseits. Er weiß, man muss "die ethnozentrischen und isolationistischen Versuchungen überwinden, die in der Identität lauern" (143). Als Remedium beschwört er einen anti-essenzialistischen Kulturbegriff. Identitäten sind demnach vor allem historisch zu begreifen, was auch klassenmäßige sozio-ökonomische Bestimmungen ins Bild bringt. Außerdem sind sie dynamisch und schließlich auch im Innern heterogen. Doch andererseits geht für ihn "Identität [...] der Globalisierung voraus" und "folgt noch immer den Botschaften ihrer eignen Logik, antwortet auf die Stimme der Gemeinschaft", wodurch sie fürs globalisierende Kapital "eine besonders lästige Widerstandssphäre" darstelle (140f). Kurz davor zitiert er noch Zygmunt Bauman (La sociedad individualizada, Madrid 2001, 174): "die Identität ist nurmehr ein Ersatz [...] und ein Phantasma eben der Gemeinschaft, zu deren Ersatz sie geworden ist. Die Identität sprießt auf dem Friedhof der Gemeinschaften, doch blüht sie dank ihres Versprechens, die Toten wieder zum Leben zu erwecken" (zit. 139). Bei ihm selbst dagegen "keimt die Kohäsivkraft der Identität im Garten der Gemeinschaft" (146). Er sieht die fundamentalistischen und autoritären Gefahren, die in der Verteidigung traditionaler Gemeinschaft und Identität lauern, und sucht dem "cerco comunalista", der sich einigelnden traditionellen Gemeinschaft, zu entkommen (154). Andererseits müsse man "den Ethnozentrismus oder Nationalismus des Herrschenden von dem des Beherrschten" unterscheiden (187). Aber soll man letzteren auch den patriarchalen Autoritarismus mit seiner Negation der individuellen Freiheit usw. zugestehen? Es scheint kein Zufall, dass José Carlos Mariátegui, der die Indiofrage in "das Problem des Bodens" als der Grundlage der "comunidad" übersetzt (Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen, 1986, 49-72) und einen "indoamerikanischen Sozialismus" erstrebt hat (vgl. Eleonore v. Oertzens gleichnamigen Artikel in HKWM 6/II), in der reich bestückten Bibliographie keinen Platz gefunden hat.
Was über weite Strecken zu kurz kommt, ist der Sinn für die Widersprüchlichkeit der Dinge, für die Dialektik. Der Liberalismus ist schlechterdings der Feind, und der Universalismus wird ihm überlassen. In der "kosmopolitischen Identität" sieht Verf. eine bloße "Maske der Individualisierung" (143), deren fundamentale Legitimität er zu bestreiten scheint und die er nicht vom Individualismus des Besitzes und der Konkurrenz unterscheidet. So wird der Bogen identitätspolitisch überspannt. Erst gegen Ende, in der Auseinandersetzung mit Eric Hobsbawms Absage an Identitätspolitik und Reklamation des Universalismus für die Linke kommt Bewegung in die bis dahin binär geschiedenen Fronten (198ff). Hobsbawm denkt wie Gramsci die Individuen als simultan zu unterschiedlichen Kollektiven gehörend. Dem stimmt Verf. zu und wendet sich gegen fundamentalistische und exklusive Identitätsvorstellungen. Die marxistische Linke sieht er auf Umverteilung, die postmarxistische auf Anerkennung festgelegt. Mit Nancy Fraser möchte er beides verbinden (202f). Zwischen Gleichheit und Verschiedenheit sieht er keinen Gegensatz, ohne dieses Spannungsverhältnis anders als formelhaft zu proklamieren ("Gleichheit in der Differenz oder Einheit in der Verschiedenheit ", 203). Die neoliberale Hegemonie führt Verf. auf "die erfolgreiche Arbeit der neoliberalen Intelligenzia" und das Ausbleiben entsprechend zähen Engagements seitens der Linksintellektuellen sowie auf deren Versäumnis, eine alternative Theorie der Gerechtigkeit auszuarbeiten, zurück (195). Der Untergang der fordistischen und Übergang zur hochtechnologischen Produktionsweise, ohne den jene Hegemonie nicht zu begreifen ist, bleibt wie so oft im Dunkeln.
Wolfgang Fritz Haug

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 418-420