Ali Tariq: Piraten der Karibik. Die Achse der Hoffnung. München 2007. 304 S.
Wolfgang Hein (Hg.): Lateinamerika Analysen. Die lateinamerikanische Linke und die Globalisierung, 17. Jg., H. 2, 2007. 255 S.
Herbert Berger u. Leo Gabriel (Hg.): Lateinamerika im Aufbruch. Wien 2007. 280 S.
In Lateinamerika, weltweit erstes und von Militärdiktatoren streng bewachtes Experimentierfeld der Chicago-Boys, werden die neoliberalen Eliten heute nicht nur von sozialen Bewegungen, sondern auch von Reformregierungen unter Druck gesetzt. Weitgehend unstrittig ist, dass der Neoliberalismus in mehreren Ländern des Subkontinents im Kampf um die politisch-ideologische Hegemonie, sofern er sie denn je innehatte, ernsthafte Rückschläge hinnehmen musste.
Einigkeit besteht auch darin, dass es sich um komplexe und dazu unterschiedlich verlaufende Entwicklungsprozesse handelt, die teilweise durch abrupte Kurswechsel entscheidender Akteure gekennzeichnet sind. Weiter sind historische Besonderheiten, spezifische politische und soziale Kräftekonstellationen sowie kaum vergleichbare ökonomische Ausgangsbedingungen zu beachten. Deshalb gilt es, die einzelnen Prozesse zunächst in ihrer sozioökonomischen, politischen, räumlichen und zeitlichen Bedingtheit zu analysieren. Darauf aufbauend sind generalisierende Thesen zu erarbeiten, die, je nach Standpunkt, den "Linksrutsch", "Populismus" oder die "ungebrochene Kontinuität des Neoliberalismus" zum Inhalt haben.
Tariq Ali nimmt diesen Kampf um die Deutungshoheit zwischen neoliberalen Dogmatikern, politischen Konvertiten und angepassten Meinungsproduzenten uniformer Medienoligopole einerseits sowie widerständigen Basisbewegungen, bolivarianischen Revolutionären und originellen Reformern andererseits zum Ausgangspunkt. In seiner Streitschrift rechnet er mit dem "Konformismus und dem primitiven Freund-Feind-Schema der westlichen Mainstream- Medien" ab. Höhnisch zeigt er am Beispiel der Venezuela-Berichterstattung, dass die "Ideologie des Westens" sowie "Konformität und Nachrichtenmanagement" wichtiger sind als Seriosität und Objektivität. Ausschlaggebend seien nicht etwa die Menschenrechtsbilanz, Redefreiheit oder Wahlergebnisse, sondern die Frage: "Freund oder Gegner" (16). Auch die "meisten Lateinamerika-Spezialisten in den westlichen Hochschulen" rechnet Ali zur "globalen Medienarmee": "Sie wurden vernünftig [...] oder [...] sie ließen sich kaufen" (12). Seine nicht immer differenzierte Darstellung gewinnt Überzeugungskraft durch persönliche (Reise-)Schilderungen und Insiderwissen aufgrund seiner Kontakte zu linken Intellektuellen Lateinamerikas und Begegnungen mit Chávez und Morales.
Die Lateinamerika Analysen hingegen entbehren der kritischen Schärfe Alis. Die Vorsicht einer kompetenten und kritischen, aber prekär beschäftigen Nachwuchswissenschaftlerin wie Tanja Ernst ist beispielhaft. Im Fazit ihres differenzierten Bolivienbeitrags vermerkt sie zur außenpolitischen Position der Bundesregierung fast verschämt, dass eine "nicht genehme Regierung" mit "zweierlei Maß" gemessen werde und dass angesichts des hohen Wahlsieges und weiterhin hoher Umfragewerte für Morales die "geäußerte Sorge um den Fortbestand der Demokratie durchaus verwundern" (194). Der konterrevolutionäre "Meinungsartikel" von Christian E. Rieck von der Konrad-Adenauer-Stiftung ist skrupelloser. Dass, um mit Ali zu sprechen, "ein Trittbrett fahrender Karrierist" den entscheidenden Länderbeitrag schreiben darf und nicht etwa, was nahe gelegen hätte, ein mit differenzierten Einschätzungen hervorgetretener Lateinamerikanist wie Klaus Meschkat, wirft kein gutes Licht auf die Herausgeber. Dabei misslingt es dem Heft-Koordinator Andreas Boeckh in der Einleitung sowohl, den Begriff "links" mit Inhalt zu füllen, als auch, einen Bezug zu den gegenwärtigen Debatten in Lateinamerika herzustellen. Statt sich mit maßgeblichen Intellektuellen wie etwa Atilio Boron, Claudio Katz, Emir Sader, Raúl Zibechi, Jorge Castañeda oder James Petras auseinanderzusetzen, werden wieder einmal Probleme der importsubstituierenden Entwicklung nachgezeichnet. Der Tübinger Wissenschaftler konstatiert, dass viele unterschiedliche Fälle und Strategien mit dem "Etikett links" bezeichnet werden, was irreführend sei, weil es "ein höheres Maß an Gemeinsamkeit suggeriert, als tatsächlich vorhanden ist" (72). Links könne "alles umfassen [...], was an Konzepten und Strategien gegenwärtig denkbar ist: Von marktradikal bis zu einem hochgradig interventionistischen und staatsfixierten Sozialismus, von Weltmarktöffnung zu Abschottung und Binnenorientierung, von raschen sozialen Reformen bis hin zu einer vorsichtigen Steigerung der Staatsausgaben." (82) Wie soll mit einer derart ›geschärften‹ Begrifflichkeit der Aufbruch in Lateinamerika eingeordnet werden?
Altgediente ›Bewegungshaudegen‹ wie Herbert Berger und Leo Gabriel tun sich da leichter. Anders als Boeckh nähern sie sich ihrem Thema nicht von oben und außen, sondern von unten und innen. Sie wollen "nicht nur informieren, sondern auch motivieren" (21). Es geht ihnen nicht vorrangig um Führungspersonen (wie bei Ali) oder festgefügte Sozial- und Wirtschaftsstrukturen (wie bei den Lateinamerika Analysen), sondern um die höchst unterschiedlichen linksgerichteten Basisbewegungen, die nach Ansicht der Hg. "einen tief sitzenden Wandel im Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheiten" bewirkten (7). In zehn Länder- und Themenbeiträgen von österreichischen und lateinamerikanischen Autoren werden auf hohem Niveau Einzelaspekte diskutiert. Da die Autoren, anders als der westliche Mainstream, nicht nur ein breites Spektrum oppositioneller Akteure, sondern darüber hinaus auch ihre komplexen Binnenbeziehungen im Blick haben, skizzieren sie ein facettenreiches Panorama, das die politischen Brüche nachvollziehbar werden lässt. Manche Thesen sind jedoch unscharf oder überdehnt: Dass sich die Prozesse in Bolivien oder Mexiko "auf die eine oder andere Weise von den präkolumbianischen Kulturen herleiten" (15) oder dass die Solidarwirtschaft auf Dauer von einem "immateriellen Substrat, der Solidarität" (197) getragen werden kann, ist fraglich. Dennoch wird deutlich, dass es nicht nur um die Staatsprojekte von Linksregierungen geht, sondern um einen "Aufbruch" von unten.
Albert Sterr