Dieter Boris u.a. (Hg.): Sozialstrukturen in Lateinamerika. Ein Überblick. Wiesbaden 2008. 300 S.
Mit dem Band, der Texte größtenteils lateinamerikanischer Autor/innen versammelt, wollen die Hg. auf den Mangel sozialstruktureller Analysen Lateinamerikas reagieren. Vorhandene Studien böten meist nur zu kurz greifende Erklärungen weitreichender Wandlungsprozesse an. Der Sammelband behandelt die Dimensionen der Klassenstrukturen, der sozialen Milieus und horizontalen Strukturen sowie der sozial-räumlichen Strukturen und beleuchtet diese sowohl in empirisch fundierten Länderstudien, die auch individuelle Erfahrungen berücksichtigen, als auch auf regionaler Ebene. Neben der Analyse der herrschenden Klasse (Maristella Svampa), der Mittelschichten (Gabriel Kessler und María Mercedes Di Virgilio) und der städtischen Arbeiter/innenklasse (Francisco Zapata) greift der Band oftmals vernachlässigte Dimensionen der Sozialstrukturanalyse wie Ethnizität (Fabiola Escárzaga Nicté), Migration (Katherine Andrade-Eekhoff), Geschlechterverhältnisse (Amy Bellone Hite und Jocelyn S. Viterna) und Jugend (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL) sowie das Verhältnis von Stadt und Land (Christof Parnreiter und Cristóbal Kay) auf.Die Besonderheit lateinamerikanischer Sozialstrukturen erklärt sich historisch durch die Form der Einbindung des Subkontinents in den Weltmarkt, die eine kapitalistische Produktionsweise abrupt und in abhängiger Form implementierte. Dementsprechend gehören vor allem diejenigen sozialen Gruppen zur herrschenden Klasse, die eine starke Außenorientierung verfolgen. In jüngerer Zeit bestimmten die nach der Schuldenkrise in fast allen Ländern umgesetzten neoliberalen Reformen die sozialstrukturellen Veränderungen. Binnenmarktorientierte Fraktionen der herrschenden Klasse verloren weiter an gesellschaftlicher Macht, während exportorientierten Kapitalgruppen, Import-, Finanz- und Versicherungsunternehmen, ihre Positionen ausbauen konnten. Die formelle Arbeiter/ innenklasse wurde geschwächt; es kam zu verstärkter Land-Stadt-Migration und zu einer Feminisierung der Erwerbsarbeit.
Escárzaga zieht gesamtgesellschaftliche Veränderungen zur Erklärung der exponierten Stellung indigener Bewegungen heran. Während Gewerkschaften, bedingt durch Informalisierung und Deindustrialisierung, in vielen Ländern an politischer Gestaltungskraft verlieren, wird ihr Platz teilweise von neuen oder revitalisierten sozialen Bewegungen eingenommen. In Bolivien, Ecuador oder Mexiko spielen dabei indigene Bewegungen eine wichtige Rolle. In einem historischen Rekurs arbeitet die mexikanische Soziologin die nationalen Unterschiede der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für indigene Bevölkerungen heraus. Während etwa in Bolivien die ethnische Zugehörigkeit erfolgreich als politische Waffe der Indígenas eingesetzt wird, definierten sich "indigene" Organisationen in Peru stärker über ihre Klassenzugehörigkeit als Bauern oder Landlose. Aber auch staatliche ›Anti-Terror‹-Politik, die rassistische Züge trug und sich vornehmlich gegen die indigene Bevölkerung richtete, führte zu einem Klima der Angst, das die politische Artikulation bis heute lähmt.
Francisco Zapata, einer der profiliertesten linken Gewerkschaftsforscher Lateinamerikas, beschreibt die Schwierigkeiten der Gewerkschaften, im Kontext der Flexibilisierung und Informalisierung der Arbeit, steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Löhne sowie der Privatisierung öffentlicher Aufgaben die Rolle wahrzunehmen, die ihnen in der Periode der Importsubstitution noch zukam. An den Fällen Brasiliens, Mexikos und Argentiniens zeigt er beispielhaft Ähnlichkeiten und Unterschiede des Umgangs der Gewerkschaften mit der neuen Situation auf. In Brasilien organisieren sich die Gewerkschaften historisch bedingt eher territorial statt sektoral, was ihnen den Umgang mit den neuen Herausforderungen erleichtert. - Bellone Hite und Viterna, die den Sozialstrukturwandel aus geschlechtersensibler Perspektive beschreiben, kommen zu dem Ergebnis, dass die Gewerkschaften nicht angemessen auf die Veränderungen reagieren. Zwar hat die Erwerbstätigkeit von Frauen zwischen 1980 und 2000 um 33 Prozent zugenommen, doch sind sie in den traditionellen Gewerkschaften kaum präsent und bleiben weiterhin für reproduktive Tätigkeiten verantwortlich. - Kessler und Di Virgilio behandeln die Effekte veränderter Einkommensstrukturen in Argentinien als "Neue Armut". Dabei geht es nicht um die in den Elendsvierteln konzentrierte, sondern um die eher unsichtbare Armut der unteren Mittelschicht. Die alte Dreiteilung in Ober-, Mittel- und Unterschicht wird durchbrochen. Die ›neuen Armen‹ müssen zur Verhinderung ihres sozialen Abstiegs soziales und kulturelles Kapital heranziehen, dessen Wert an Stabilität verliert und mit der Zeit aufgezehrt wird.
Abschließend erörtern die Hg. die Frage, inwiefern sozialstrukturelle Veränderungen politische Entwicklungen implizieren. Sie verweisen auf das Spannungsverhältnis von objektiver Lage und subjektivem Bewusstein und unterstreichen, dass Sozialstrukturanalyse die Handlungsspielräume sozialer Akteure und ihre wahrscheinlichen Handlungen aufzeigen kann. Getroffen von der Wirtschaftskrise trugen die verarmten Teile der Mittelschichten Argentiniens zwar den Protest gegen das neoliberale Modell, der schon gut 5 Jahre andauernde Wirtschaftsaufschwung hat jedoch ihre objektive Lage verändert. Einige Mittelschichtssegmente unterstützen heute im Streit um Exportsteuern auf Agrarprodukte die oligarchische Opposition und votieren auch in regionalen Wahlen für die politische Rechte.
Anna Dobelmann
Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 444-445