Roland Roth u. Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt/M u.a. 2008. 770 S.
Ein Jahr nach Heiligendamm, ein Jahr also, nachdem seit langer Zeit wieder eine breite Öffentlichkeit durch Demonstrationen, Aktionen zivilen Ungehorsams und Massenmobilisierungen von der Existenz sozialer Bewegungen in Deutschland erfahren hatte, legen die renommierten Bewegungsforscher Roland Roth und Dieter Rucht ein Handbuch zu deren Geschichte vor. Das Vorhaben ist ehrgeizig und als solches bereits verdienstvoll: "Das historische Erbe und die Aktualität der sozialen Bewegungen" sollen "im Sinne eines Nachschlagewerkes für ein breites, politisch interessiertes Publikum" aufbereitet werden (11). In 21 verständlich geschriebenen Beiträgen wird von der Arbeiter-, Frauen- und Friedens- über die Umwelt-, Anti-AKW-, Dritte-Welt- und Studenten- bis hin zu den städtischen, linksradikalen, Migranten- und Schwulenbewegungen jede wichtige Bewegung seit dem Zweiten Weltkrieg erfasst. Die Beiträge sind einheitlich gegliedert und ermöglichen so einen Überblick u.a. über "historische Vorläufer", "Ideologie und Zielsetzungen", "Organisationen und Netzwerke", "Wirkungen und Perspektiven". Ein den Beiträgen zu einzelnen Bewegungen vorangestellter Teil zum "historisch-politischen Kontext", eine ausführliche Chronologie und ein umfangreicher Literaturteil sowie knapp einhundert Abbildungen sprechen für den angestrebten "Gebrauchswert" des Handbuchs und machen es zu einem Standardwerk der Bewegungsforschung.Durch das gesamte Handbuch zieht sich die im Wort "Bewegungsgesellschaft" (10) verdichtete These, die sozialen Bewegungen seien in der heutigen Gesellschaft angekommen. Dahinter verbirgt sich die oftmals modernisierungstheoretisch begründete Interpretation, die Mobilisierungen der neuen sozialen Bewegungen seit Mitte der 60er Jahre seien ein nicht wegzudenkender Teil einer "Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik" (91) bzw. ihrer grundgesetzlichen Demokratie. Ihr wesentlicher Beitrag liege in einer Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens sowie der Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit als Korrektiv staatlicher Institutionen. Viele Artikel lehnen sich dabei an die von Habermas formulierte Analyse einer "Fundamentalliberalisierung" an. Auch in den Sozialwissenschaften sei der Begriff "soziale Bewegung" längst kein exotischer mehr. Vielmehr begrüßen die Hg. in ihrem Schlusskapitel emphatisch eine "Normalisierung der Bewegungsforschung" (643), die durch ihren Anschluss an den methodischen und theoretischen Standard des internationalen Forschungs-Mainstreams erreicht worden sei.
Aus den vielen guten Beiträgen ragen einzelne heraus: Wolf-Dieter Narr zeichnet in seiner Charakterisierung der Jahre 1949-1966 eindrucksvoll den Kontext nach, in dem sich die ersten neuen sozialen Bewegungen herausbildeten. Im "demokratisch-autoritären CDU-Staat" (54) war "alles, was politisch ist, [...] staatsgemacht, staatsdefiniert, staatsbezogen und, so zulässig, staatskonform" (67). Narr benennt hier einen wesentlichen Ausgangspunkt neuer sozialer Bewegungen: die Kritik an der bürokratisch-autoritären Staatstradition und dessen normalisierender Einhegung aller Lebensbereiche. Auch einen zweiten, in seiner Bedeutung in vielen Beiträgen leider unterschätzen Faktor für die Verbreitung der neuen sozialen Bewegungen in den 70er Jahren spricht er klar an: "die negativen Effekte kapitalistischer Wachstumspolitik" (352), durch die, wie Margit Mayer in ihrem Beitrag zu städtischen sozialen Bewegungen ergänzt, die "Grenzen des fordistischen Wachstumsmodells offensichtlich geworden" waren (299).
Ute Gerhard fügt in ihrer historischen Nachzeichnung und Analyse der "sozialen Bewegung par exellence" (191), der Frauenbewegung, weitere wichtige Bausteine hinzu. Zum einen macht sie deutlich, dass Bewegungen nicht in Zyklen - Aufkommen, Mobilisierung, Institutionalisierung, Verschwinden - zu begreifen sind, sondern dass sie neben Zeiten der starken öffentlichen Präsenz "auch Zeiten der Latenz durchlaufen, um den Nährboden für neue ›Wellen‹ der Mobilisierung zu bilden" (216). Zweitens betont Gerhard die Bedeutung internationaler Einflüsse für soziale Bewegungen, die nicht nur punktuell wie im Falle der Proteste gegen den Vietnamkrieg 1967/1968 oder der Demonstrationen in Seattle 1999 und Genua 2001 auf die hiesige Bewegungslandschaft einwirken, sondern permanent theoretische oder praktische Anstöße geben. So habe die Frauenbewegung ihren Slogan "Das Private ist Politisch" von der us-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung übernommen (201) und die Einrichtung von Frauenhäusern an englischen und niederländischen Beispielen orientiert (205). Drittens arbeitet Gerhard den innerhalb der neuen sozialen Bewegungen zentralen Konflikt heraus: Die Spaltung der Frauenbewegung entlang der Frage "Autonomie und/oder Institutionalisierung" wiederholt sich im Laufe der 80er und 90er Jahre in beinahe allen neuen sozialen Bewegungen.
Der Beitrag über "Dissidente Gruppen in der DDR" von Marc-Dietrich Ohne und Detlef Pollack hebt sich positiv von den oft schwarz-weiß-gemalten Darstellungen der DDRWiderstandsgeschichte ab, der zufolge beispielsweise die heterogene Welt der politischen Organisierung auf betrieblicher Ebene "zum bloßen ideologischen Appell" an die "Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung" abqualifiziert wird (165). Verf. liefern dagegen eine differenzierte Beschreibung der verschiedenen Strömungen einer Dissidenzbewegung, die letztlich in der Mobilisierung im Jahr 1989 aufgeht. Sie widersprechen damit gleichzeitig dem nicht überzeugenden Versuch, die Dissidenzbewegung von einer allgemeineren und um 1989 mobilisierten ›Bürgerbewegung‹ zu trennen. Letztere, hervorgetreten in einer äußerst speziellen historischen Situation, will Dieter Rink in seinem Beitrag zu einem eigenständigen Typus erheben und diesen als Prototyp einer ideologiefreien, bürgerschaftlichen Zivilgesellschaft normativ überhöhen (412f).
Ein solcher Begriff von Zivilgesellschaft, wie er sich bei Rink andeutet, verbunden mit einer modernisierungstheoretisch behaupteten Demokratisierung, in die sich soziale Bewegungen scheinbar bruchlos einordneten, erklärt den blinden Fleck in vielen Beiträgen: die bewegungsarme Zeit der 90er Jahre. Das Stichwort der "NGOisierung" fällt nicht, hätte aber einigen Analysen gut getan. Denn auf diese Weise kann weder die demobilisierende Einbindung vieler Bewegungsteile durch staatliche Förderung und ihre Vereinnahmung für ein Politikmodell, dessen Aushandlungsmechanismen zwischen Politik, Markt und Zivilgesellschaft prinzipiell allen Interessen gerecht zu werden verspricht, offen gelegt werden. Genauso wenig wird die Bedeutung der ab Ende der 90er Jahre aufkommenden globalisierungskritischen Bewegung erkannt, die v.a. feministische Politikansätze der Autonomie und der Kritik informeller Machtbeziehungen aufnimmt und auf diese Weise eine antagonistische und außerparlamentarische Politik wiederentdeckt.
Armin Kuhn