Karin Gabbert u. Wolfgang Ulrich Goedeking u.a. (Hg.): Jahrbuch Lateinamerika 31. Rohstoffboom mit Risiken. Analyse und Berichte. Münster 2007. 222 S.
Absicht der Hg. ist es, die "Hoffnungen und Schattenseiten des Rohstoffreichtums in Lateinamerika" (7) zu beleuchten. Elmar Altvater benennt den zentralen Nachteil eines rohstoffbasierten Wachstums: die sinkende Wettbewerbsfähigkeit anderer Wirtschaftssektoren in Folge von Währungsaufwertungen (28). In der neoliberalen Freihandelspolitik der letzten Jahre sieht er das zentrale Entwicklungshindernis. Freihandel führe zwar aus kapitalistischer Sicht zu optimaler "Allokation von Produktionsfaktoren", Entwicklung könne jedoch nur hinter "schützenden Zollmauern realisiert werden" (27). In der exportorientierten Entwicklung sieht er eine Sackgasse und stellt dem die Förderung der Industrieproduktion in China als erfolgreiche Alternative entgegen, wobei die chinesische Konkurrenz die Exportstrategien lateinamerikanischer Staaten zusätzlich erschwere (32). Vera Lehmann betrachtet die lateinamerikanisch-chinesischen Beziehungen als Chance für die Rohstoffexporteure in Südamerika, während für Mexiko und Zentralamerika der Konkurrenzdruck durch chinesische Exporte im Vordergrund stehe. Ähnlich wie Altvater warnt sie gleichzeitig vor einer Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes der Rohstoffländer.Ingo Bultmann weist auf die homogenisierende Wirkung des "Ressourcennationalismus " (40) nach innen und die Verlagerung der sozialen Frage auf das außenpolitische Feld hin. Der "Skepsis der Bessergestellten gegen linksgerichtete Regierungen" zum Trotz werde in den Medien Einvernehmen darüber hergestellt, "dass die mineralischen Rohstoffe des Landes der Nation gehören, deren Sachwalter ›der Staat‹ ist" (ebd.). Profi teure des Rohstoffnationalismus während der Zeit der importsubstituierenden Industrialisierung seien neben "regionalen Oligarchien und Fraktionen einer sich selbst privilegierenden Staatsklasse" (46) vorrangig die Mittelschichten. Für die Unterschichten lasse sich hingegen "bestenfalls ein trickle-down-Effekt feststellen" (ebd.)
Eine kritische Haltung nehmen verschiedene Autoren zu den Agrotreibstoffen ein. Tobias Fatheuer warnt vor dem Vormarsch der Monokulturen und den indirekten Auswirkungen des Zuckerrohranbaus, dessen "Ausdehnung den Druck auf den Regenwald " verstärken werde. Gleichzeitig lobt Verf. das "Biodieselprogramm" (64) wegen seiner sozialen Ausrichtung. Hier benutzt Verf. den Zusatz ›Bio‹, den er zuvor selbst als suggestiv, weil positive Konnotationen weckend, abgelehnt hatte. Weitere Autoren widmen sich einer Fülle von Einzelthemen, von der transgenen Landwirtschaft in Brasilien über Minenbetriebe in Peru bis zu schmutziger Papierproduktion in Uruguay. Neben der als "katastrophal" (107) bezeichneten Ökobilanz der Eukalyptusplantagen betont Stefan Thimmel auch deren extrem niedrige Arbeitsintensität (111). Auch auf die Bedeutung der Biodiversität als natürliche Ressource der Zukunft wird hingewiesen. Ulrich Brand stellt Konflikte, Chancen und die Folgen des WTO-TRIPS-Abkommens dar. Die "biopolitische Konstellation in Lateinamerika" ergebe ein "widersprüchliches Bild", da die "Aneignung natürlicher Ressourcen" von sozialen Bewegungen, NGOs und einigen Regierungen in Frage gestellt werde, während gleichzeitig der "Handlungsspielraum auch progressiver Regierungen" auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruhe (127). Leider fehlt hier ein Beitrag zu den alternativen Ansätzen der Ressourcenpolitik der Regierung Rafael Correas in Ecuador, die einen internationalen Ausgleichsfonds für die Nicht-Ausbeutung von Ölvorkommen in ökologisch wertvollen Gebieten vorgeschlagen hat.
Silke Helfrich sieht Fortschritte der in erster Linie von "ökonomischen und erst in zweiter Linie von ökologischen Notwendigkeiten" (87) bestimmten ›Energierevolution‹ auf Kuba. Ein zentraler Kritikpunkt ist die mangelnde praktische Umsetzung des meist exzellenten Erkenntnisstandes, die auf den "vertikal strukturierten Machtapparat" und die fehlende "Demokratisierung der Wissenschaft" (82) zurückgeführt wird. Die kubanische Entwicklung wird im Hinblick auf Erfolge, innere Widersprüche und externe Zwänge beleuchtet. Der Karibikstaat sei das "weltweit einzige Land" (77), in dem ein hoher Index für menschliche Entwicklung nicht mit einem funktionierenden Ökosystem in Konflikt stehe.
Außerhalb des Schwerpunktbereichs bietet das Jahrbuch Analysen zur politischen Lage in Chile, Bolivien, Nicaragua, Mexiko und Haiti. Astrid Nissen liefert hier eine euphemistische Beschreibung des Sturzes von Aristide und der Rolle, die die USA und Frankreich dabei spielten: "Unter massivem Druck der Vereinigten Staaten und Frankreichs verließ Jean-Bertrand Aristide am 29. Februar 2004 das Land" (214). Auch die Zwischenüberschrift "Vom Bewaffneten Widerstand zur Übergangsregierung" (ebd.) verharmlost die treibenden Kräfte des Umsturzes, die von der Autorin selbst eher beiläufig als "ausgewiesene Gewaltspezialisten" (214) bezeichnet werden. Wolf-Dieter Vogels Beitrag über das "zwiespältige Comeback der Sandinisten" (194) geht von der verfehlten Annahme aus, dass es sich bei der FSLN in erster Linie um eine Partei der Armen handele: "Der ›Frente‹- Kandidat versprach kostenlose Gesundheitsversorgung, Alphabetisierungskampagnen und ein Null-Hunger-Programm und konnte damit bei den rund 70 Prozent Armen des Landes auf offene Ohren hoffen." Diese ›Parolen‹ legen seiner Meinung nach die Rückkehr der alten Zeiten nahe. Verf. übersieht, dass der zentrale Slogan der Kampagne "Frieden und Wiederversöhnung" lautete und durch Bündnisse mit Ex-Contras und konservativen evangelikalen Gruppen sowie mit Teilen der katholischen Kirche geprägt war. Treffend hingegen ist sowohl die Kritik der "Volksräte" als "›direkte Demokratie‹ von oben" (202) als auch die Kritik an der neoliberalen Politik der seit 1990 regierenden bürgerlichen Präsidenten: "Während die Analphabetenquote von den Sandinisten auf 12 Prozent gesenkt worden war, stieg sie wieder auf über 30 Prozent an." (195) Müller-Plantenberg konzentriert sich auf die Person der chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet, bietet viele biografische Informationen, ohne allerdings den Bogen vom Lebenslauf zur Realpolitik der Präsidentin zu spannen, die den "von den so genannten Chicago-Boys eingeschlagenen Wirtschaftskurs in jedem Fall fortsetzen" (175) möchte. Das Fortwirken der neoliberalen Pinochet-Diktatur wird so deutlich.
Timm B. Schützhofer
Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 450-452