Michael Zeuske: Kleine Geschichte Venezuelas. München 2007. 207 S.
Der Band ist als Überblickswerk konzipiert und richtet sich v.a. an interessierte Laien. Er spannt einen Bogen von den präkolumbianischen Kulturen bis in die Gegenwart. Verf. beschreibt zunächst die spanische Kolonialherrschaft und stellt dabei die komplizierte Siedlungsgeschichte und die verdeckte Kastenordnung mit ihren vielfältigen ökonomischen, ethnischen und religiösen Konflikten heraus. Die Informalität des Politischen wird als konstitutives Moment der historischen Entwicklung Venezuelas beschrieben und macht die Machtkämpfe innerhalb der verschiedenen heterogenen Fraktionen der Kolonialeliten verständlich. Verf. beschreibt Grenzkriege, Schmuggel, Piraterie, Sklavenjagd und Missionierung als Bestandteile der kolonialen Epoche und ordnet diese in den geschichtlichen Gesamtzusammenhang ein. Die Darstellung besticht durch die Verbindung von Detailinformationen mit übergreifenden Thematisierungen, wie bspw. den Problemen, die sich aus den parallel existierenden heterogenen und klientelistisch kontrollierten Wirtschaftsregionen ergaben. Im Zusammenhang mit dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft gelingt es Verf., die Differenziertheit der Elitennetzwerke mit zentralen und immer wiederkehrenden Grundproblemen zu verbinden: der Agrarfrage und der mangelnden gesellschaftlichen Integration des Großteils der Bevölkerung sowie eines damit verknüpften latenten Rassismus. Als Grundkonstanten sieht er die "Partialisierung und Balkanisierung der Territorien, Schwierigkeiten bei der Herausbildung eines Zentrums, rücksichtslose Konflikte der lokalen Eliten und die Stiefmütterlichkeit des Imperiums [...] gegenüber den Peripherien" (18). Verf. stellt die Geschichte als einen Prozess offener - und verpasster - Chancen dar: "Das Unterlassen einer wirtschaftlichen Demokratisierung des Landbesitzes war ein historischer Fehler." (64) Gleichzeitig gelingt es ihm, die jeweiligen zeitgeschichtlichen Denkmuster und strukturellen Begrenzungen zu vermitteln, er arbeitet die Charakteristik und Spezifik des venezolanischen Modernisierungsprozesses heraus und deckt Antagonismen auf, die sich bes. ab Anfang des 20. Jh. aus der Rolle des Erdöls ergeben. Klientelismus, Nepotismus und Patronagesysteme bilden dabei ein anhaltend wirksames Geflecht der Bereicherung. Den Elitenpakt von Punto Fijo 1958, der die Ausnahmestellung Venezuelas als wirtschaftlich prosperierende "Demokratie" in einer Zeit der Militärdiktaturen begründete und auf den Geldern des Erdölsektors und ihrem Einsatz als "Schmiermittel" aufbaute, beschreibt Verf. als ein vom informellen Grundkonsens der Eliten getragenes Zweckbündnis, das mit dem Einsetzen der Schuldenkrise 1983 bröckelte und sich spätestens Ende der 1980er im Zuge der rücksichtslosen Durchsetzung neoliberaler Schockrezepte vollends delegitimierte. Verf. stellt die zentralen Faktoren heraus, die wenige Jahre später dem politischen Outsider Chávez den Weg zur politischen Macht ebnen. Dessen Bewegung V. República entstand in dieser Zeit; der von ihm initiierte, missglückte militärische Aufstand 1992 folgte auf die erste große Hungerrevolte des Neoliberalismus in Lateinamerika, dem sog. Caracazo 1989, der brutal niedergeschlagen wurde. Chávez wird als volksnaher, selbst der unteren Klasse zugehöriger Repräsentant eines politischen Neuanfangs vorgestellt (179). Verf. zeichnet die Turbulenzen der ersten Regierungsjahre nach und geht auf die Streiks, den Putsch 2002 und das Abwahl-Referendum 2004 ein. Er benennt weiter bestehende Probleme: die Agrarfrage und die hohe Armutsquote. Hier lässt sich die Darstellung durchaus als Plädoyer für eine Radikalisierung der Revolución Bolivariana lesen. Die Schaffung neuer und der Weiterbestand alter Institutionen wird als ein unübersichtliches, für Korruption anfälliges Geflecht beschrieben (193), das institutionelle Blockaden erzeugt. Als weiteres Problem gilt ihm die anhaltende Abhängigkeit vom Erdöl. Mit der für Venezuela charakteristischen Rentiersökonomie habe auch Chávez bisher nicht gebrochen. Darüber hinaus sorgten der traditionell starke Nationalismus und die caudillistische Zentrierung auf Chávez für Defizite, u.a. bei der Einlösung des in der Verfassung verankerten Partizipationspostulats. Aus globalhistorischer Perspektive wirft Verf. schließlich die Frage auf, ob in Venezuela tatsächlich ein eigenständiger Entwicklungsweg eingeschlagen wurde. Die Chancen dafür bewertet er mit Bezug auf das Scheitern us-neokonservativer Allmachtsphantasien und der "antisozialen Reformen der Marktwirtschaft in Europa" (196) als günstig, zugleich sei Venezuela jedoch von der wirklichen Einlösung dieses Zieles noch weit entfernt.Christoph Beyer