Michael Willenbücher: Das Scharnier der Macht: Der Illegalisierte als homo sacer des Postfordismus. Berlin 2007. 142 S.
Verf. formuliert eine radikale Kritik des europäischen Migrationsregimes. Die im Oeuvre des Netzwerks Kanak Attak zu verortende Lektüre stellt einen erfrischenden Gegensatz zur gängigen Darstellung der Migration aus dem ›globalen Süden‹ dar. Das Buch durchbricht die mediale Fixierung auf das mittlerweile vertraute ›Spektakel der Grenze‹ mit seinen Bildern unseliger Menschen, die an den Mittelmeerküsten der EU-Staaten abgefangen wurden. Es öffnet den Blick auf eine politökonomische Analyse der Lebensrealitäten der Millionen, die es irgendwie schaffen, ohne Aufenthaltsstatus in Europa zu leben und zu arbeiten.
Ihre Existenz innerhalb des europäischen Raums zeugt von einer gewissen Eigendynamik der internationalen Mobilität, einem staatlich nicht kontrollierbaren Überschuss, der die Handlungsfähigkeit des migrantischen Subjekts ausmacht und sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass die Durchlässigkeit der Grenze mit der Entrechtung der Migranten und der Prekarisierung ihrer Arbeitskraft einhergeht. Nicht von ungefähr spricht Verf. von Illegalisierten (statt von Illegalen).
Zunächst wird ihre Situation wie folgt beschrieben: "Ein Leben im Ausnahmezustand, ohne geregelte Arbeitsverhältnisse, ohne gesicherten Lohn, ohne eigene Unterkunft, ohne Bürgerrechte, das paradigmatische Leben des homo sacer, das nackte Leben in der Zone der Ununterscheidbarkeit" (9). Die Umschreibung undokumentierter Migration mit dem Begriff des nackten Lebens mag zunächst irritieren. In Homo Sacer suggeriert Agamben selbst diese Parallele, erläutert sie aber nicht näher. Es ist das Verdienst des Verf., die politische Figur des Illegalisierten als ›homo sacer‹ zu konkretisieren und dabei über den agambenschen Horizont hinauszugehen und die Position des Illegalisierten als prekarisierte Arbeitskraft zu erkennen. Das Ergebnis ist die provokante These im Untertitel.
In gewisser Hinsicht nimmt Verf. die jüngsten Ereignisse in Italien vorweg. Im Juli 2008 führte die Berlusconi-Regierung nationale Notstandsgesetze ein mit der Begründung, Kriminalität und illegale Migration zu bekämpfen. Seitdem hat die Polizei erweiterte Befugnisse zur Internierung illegaler Migranten. Soldaten patrouillieren in den Städten genauso wie vor den Abschiebelagern, und die Justiz wurde ermächtigt, an Illegale vermietete Immobilien zu konfiszieren. Vor diesem Hintergrund ist es äußerst hilfreich, dass sich Verf. eingehend mit der Konstruktion von Illegalität befasst. Er zeigt auf, wie die eingangs beschriebene mediale Repräsentation die Betroffenen gleichzeitig zu Opfern macht und kriminalisiert. Er geht auch der wichtigen Frage nach, wie Wissen über Illegalität erzeugt wird (wo sie sich doch gerade durch bürokratische Unsichtbarkeit kennzeichnet) und welche Konsequenzen dies in sich birgt.
So wird deutlich, dass Verf. eine produktive Intervention am Schnittpunkt von Kapitalismuskritik, politischer Theorie und Migrationsforschung anstrebt. Durch zahlreiche Literaturhinweise untermauert, argumentiert er, dass (1) das Migrationsregime weniger auf Abschottung als auf Entrechtung abzielt; (2) die illegalisierte - und insofern vollständig deregulierte - Arbeitskraft eine unfreiwillige Avantgarde des Postfordismus darstellt; (3) sich im Prozess der EU-Erweiterung das Grenzregime zum flexiblen Netzwerk von Kontrollzonen entwickelt hat, das den autonomen Mobilitätsstrategien dennoch nur hinterherhinken kann; (4) Illegalisierte durch ihre Existenz die Grenzen europäischer Zugehörigkeit in Frage stellen und so zu einer Transformation des ›citizenship‹-Begriffs beitragen; (5) das Abschiebelager ein integraler Bestandteil des Migrationsregimes ist und einen biopolitischen Raum der extremen Ausgrenzung darstellt (wobei sich Deutschland durch eine besonders hohe Dichte an Abschiebelagern auszeichnet).
Diese argumentativen Stränge werden schließlich im Hinblick auf linke Politikfähigkeit zusammengefügt. Gegen die diskursive Dominanz der "Festung Europa" mahnt Verf. zu Recht an, über Migration nicht lediglich in der Sprache ihrer Kontrolle zu sprechen. Es macht die Stärke dieses Buchs aus, dass es gleichzeitig der Versuchung widersteht, die Handlungsspielräume des migrantischen Subjekts romantisch zu verklären. Vielmehr legt die Diskussion nahe, das europäische Migrationsregime als politisch umkämpftes Terrain zu denken, das sich am Schnittpunkt staatlicher Souveränität, migrantischer Mobilität und kapitalistischer Flexibilität konstituiert. Judith Butlers treffende Anmerkung in Sprache, Politik, Zugehörigkeit, die Entrechtung von Migranten müsse aus der Perspektive ökonomischer Gerechtigkeit gedacht werden, findet im Postfordismus-Ansatz des Verf. eine ernst zu nehmende Diskussionsgrundlage.
Esra Erdem