Hugues Lagrange u. Marco Oberti (Hg.): Emeutes urbaines et protestations. Une singularité française. Paris 2006. 234 S.
Der Band befasst sich mit den Vorstadtunruhen im Herbst 2005 und den Studentenprotesten gegen den Ersteinstellungsvertrag (CPE) im Frühjahr 2006. Die Hg. vertreten die These, dass die Vorstadtunruhen wegen ihrer Intensität, Ausbreitung und Dauer im europäischen Vergleich einen Sonderfall darstellen. Sie weisen die Ethnisierung der Unruhen zurück und arbeiten ihre sozialen Bedingungen heraus. Während sich Arbeitslosigkeit, schulischer Misserfolg, schlechte Wohnsituation, Segregation, Diskriminierung und Ausgrenzung in vielen Ländern ähneln, sei die französische Situation darüber hinaus vom Selbstverständnis der Republik geprägt, die alle Bürger und Bürgerinnen, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe, rechtlich gleich stellt und den Nationalstaat als Rahmen gleicher Rechte, Kultur und Sprache auffasst. Den Ursprung der Unruhen sehen Verf. folglich in der Differenz zwischen dem republikanischen Modell von Integration und der sozialen Realität von Stigmatisierung, Segregation und Diskriminierung.Lagrange rekapituliert die Ereignisse vom November 2005 und beschreibt Orte, Akteure und Handlungen. Von 949 verhafteten Jugendlichen hatten kaum mehr als 20 Prozent eine polizeiliche Vorgeschichte (48), von allen Verhafteten waren es kaum 25 Prozent. Die Jugendlichen sind überwiegend zwischen 15 und 20 Jahre alt, wohnen in sozialen Brennpunkten, haben meist Schulprobleme oder sind arbeitslos. Zielscheiben der Proteste sind Autos, Busse, aber auch Schulen und Sporthallen, seltener Geschäfte und Lagerhallen, noch seltener öffentliche Verwaltungsgebäude und sehr selten religiöse Gebäude. Speziell die Angriffe auf Schulen sieht er als Resultat der "institutionellen Einsamkeit" (51) der Jugendlichen. Sie griffen ein System von Ungleichheit und Diskriminierung an, von dem sie sich ausgeschlossen fühlten, das sie politisch nicht repräsentierte und in das sie nach dem Niedergang der kommunistischen Partei und der Vereinskultur in der Vorstadt keine Hoffnung mehr setzten. Anders als während der Unruhen 1997 bis 2004 habe nun die neue "Dimension des Protests" die Dimension "instrumenteller Delinquenz" (Aneignungsgewalt, Plünderungen, Konfrontation mit der Polizei) abgelöst (45). Die Protest-Akteure seien jedoch "allein, jung, politisch unerfahren" (57). Ob diese Entwicklung tatsächlich so stattgefunden hat, hätte jedoch durch einen historischen Vergleich jüngster und älterer Unruhen belegt statt nur postuliert werden müssen. - Unter dem Titel "Politische Soziologie des ›Abschaums‹" untersucht Fabien Jobard die Charakteristika des neuen "Lumpengesindels ", dessen Beziehung zur Gesellschaft wesentlich durch die Justiz vermittelt ist (59). Die Zahl inhaftierter Jugendlicher verdoppelte sich von 1991 bis 2003; die Jugenddelinquenz stieg seit Beginn der 1990er Jahre stark an; die Gewalt gegen die Polizei versechsfachte sich zwischen 1998 und 2000; die Fälle von Polizeigewalt, die untersucht wurden, stieg von jährlich etwa 200 Fällen in den 1980er Jahren, auf 517 im Jahr 2001 und schließlich 725 im Jahr 2004. Jobards These lautet entsprechend, dass die Beziehungen zwischen Jugendlichen und Polizei weitgehend strafrechtlicher Natur seien; beginnend mit Kontrollen enden die Interaktionen zwischen Polizei und Jugendlichen häufig vor Gericht. Dabei zeigt er die deutliche Diskriminierung von Jugendlichen mit fremd klingenden Namen, die jedoch als französische Staatsbürger das Rechtssystem nutzen können. Die Konflikte werden beiderseits mit genauen Erwartungen darüber, wann und wie die Situation eskaliert, ausgetragen, einschließlich subtiler Provokationen oder offener Gewalt. Paradoxerweise wurde die französische Polizei, während die Konflikte zunehmen, intern wie parlamentarisch noch nie so stark kontrolliert wie heute. "Das Strafrecht absorbiert so einen substantiellen Teil der sozialen Konfliktualität" (74). Auch die politische Sozialisation der Jugendlichen ist durch die Beziehung zum Strafrecht geprägt. Die Polizei erscheint als mächtiger Akteur, der von seiner ›Klientel‹ nicht nur physisch, sondern auch symbolisch-politisch angegriffen wird. Da die Jugendlichen aber weder über stabile Lebenssituationen und langfristige Perspektiven noch über Zugang zum politischen System verfügen, begrenzen sie ihre Protesthandlungen auf Konfrontation mit der Polizei und anderen staatlichen Institutionen wie z.B. Schulen. Die strafrechtliche Konfrontation wird so zum Ersatz öffentlich ausgetragener Konflikte. Diese Ersatzarena frustriert die Jugendlichen jedoch, da das Justizsystem dazu neigt, die politische Subversion des Rechts zu unterbinden. Der Politisierungsgrad der "Polizeiklientel" nimmt zwar von Verfahren zu Verfahren und von Generation zu Generation zu, allerdings im Rahmen einer unmöglichen Konfrontation mit der Staatsmacht. Jobard vermutet, dass sich der rechtliche Status der Jugendlichen als "Polizeiklientel" in eine politische Identität als Opfer von Ungerechtigkeit und die rechtliche Arena in einen politischen Raum verwandeln wird. Das lokale politische System fördert diesen Prozess und verhindert so, dass soziale und politische Konflikte öffentlich ausgetragen werden. Die Entwicklung politischer Identität und Handlungsfähigkeit der Jugendlichen wird blockiert, indem sie auf ihre Rolle als "Abschaum" (80) des Strafrechts festgelegt bleiben. - Nathalie Kakpo untersucht die These von Stephane Beaud und Michel Pialoux, dass die Erfahrungen von Herabwürdigung, Rassismus und schulischer Enttäuschung die Ursache der Gewalt der Jugendlichen seien. Für Mädchen bietet das Schulsystem eine Emanzipationsmöglichkeit, bei Jungen hingegen fördern schulische und familiäre Probleme eine Kultur der Straße. Es bestehen große Unterschiede nach Migrationsherkunft, -geschichte und -generation, wobei die Chancen des Aufstiegs durch Schule und Arbeitsmarkt für subsaharische Migranten besonders schlecht stehen. Verf. schließt daraus, dass der Ursprung der Gewalt in den Vorstädten nicht in ethnischen, sondern in sozialen Unterschieden auch zwischen verschiedenen Einwanderergruppen zu suchen ist. - Lagrange untersucht die Unruhen als Fortsetzung sozialer Bewegungen und als Antwort auf sozioökonomische Verhältnisse. In quantitativen Studien fand er heraus, dass die Unruhen häufig in Quartieren starker sozialer Kontraste stattfanden, die oft zu Zonen prioritärer Stadtentwicklung (ZUP) erklärt worden waren und in denen der Bevölkerungsanteil der Unter-20-Jährigen, der Anteil von Familien mit mehr als sechs Mitgliedern und die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch waren. Daraus schließt er, dass die Bedingungen jugendlicher Sozialisation für die Unruhen entscheidend sind und mit den Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Intervention korrelieren. Außerdem weist er darauf hin, dass sich zwei Formen politischen Protests, nämlich rechtsextreme Wahlentscheidungen und Vorstadtunruhen, räumlich nicht ausschließen.
Die Proteste von Jugendlichen und Studenten gegen das Gesetz zum CPE der Regierung Anfang 2006 interpretieren die Hg. als Reaktion auf die zunehmende Prekarisierung des Arbeitsmarkt und die Verschlechterung der Perspektiven von gut qualifizierten Jugendlichen und Universitätsabsolventen. Trotz enormer Unterschiede zwischen diesen Jugendlichen und jenen der Vorstadtunruhen, habe eine "autistische Regierung in bonapartistischer Attitüde" (145) eine unwahrscheinliche Allianz innerhalb der Protestbewegung geschaffen. Diese Allianz hatte Bestand trotz des in den Medien breit gewälzten Angriffs von Vorstadtjugendlichen auf eine Anti-CPE-Demo, bei der es aber nicht um politische, sondern um materielle Ziele, nämlich Mobiltelefone, ging. - Oberti beschreibt, wie staatliche Förderprogramme die urbane Segregation noch verstärkten, weil sie Schulen schufen, die auf ein sozial marginalisiertes Publikum ›spezialisiert‹ sind. Das Scheitern in der Schule führt zu Enttäuschungen und setzt die maskulin geprägte Straßenkultur als Hauptquelle einer positiven jugendlichen Identität ein. Zugleich verschärfen private Angebote am oberen Ende der Bildungshierarchie die soziale Spaltung. Obertis Forderungen nach Desegregation und der Umverteilung von Ressourcen kommen nicht überraschend; abgesehen von den geforderten Quoten für universitätsvorbereitende Schulen bleibt aber unklar, wie jene aussehen und politisch durchgesetzt werden sollen.
Zusammenfassend erklären die Hg. die Unruhen als Ausdruck der Unfähigkeit des französischen Systems, die als Folge der verquickten nationalen und kolonialen Geschichte entstandene multikulturelle Wirklichkeit in seinen Institutionen abzubilden und politisch zu bearbeiten (205). Analysen, die die Krise der Repräsentation und Integration als Scheitern des republikanischen Modells deuten, wiesen in die richtige Richtung, bergen aber die Gefahr, die Spannungen ausschließlich als ethnische Fragmentierung zu interpretieren. Im Vorrang sozialer gegenüber ethnischen Ungleichheiten sehen die Verf. den radikalen Unterschied zu Großbritannien oder den USA, wo ethnische oder ›rassische‹ Markierungen viel systematischer das gesellschaftliche und politische Leben strukturieren. Jenseits von Anerkennungsfragen handelt es sich daher um ein Verteilungsproblem. Und das räumliche Muster der Unruhen lässt keinen Zweifel daran, dass die städtische Segregation ein zentraler Faktor der ungleichen Verteilung ist.
Sven Engel