Susanne Krasmann u. Michael Volkmer (Hg.), Michel Foucaults "Geschichte der Gouvernementalität" in den Sozialwissenschaften. Bielefeld 2007. 311 S.

Die Attraktivität der foucaultschen Gouvernementalitätsanalyse besteht den Hg. zufolge in drei Aspekten: in der Konzeptionierung des Staates, der Ausleuchtung der ›Regierung von Gesellschaft‹ zwischen ›Biopolitik‹ und ›Souveränität‹ und der Analyse des Neoliberalismus. Anspruch der Hg. ist, das "systematische Potenzial der Vorlesungen" über die Geschichte der Gouvernementalität "für eine Analyse der Gesellschaft der Gegenwart und ihr Gewordensein auszuloten" (12).

Hierbei gehe es auch darum, gewisse Schwachstellen, insbesondere die staatstheoretische Lücke, zu überwinden. Daher betonen die Hg., dass der Staat für Foucault - zumindest in seinen späten Machtanalysen - eine wichtige Kategorie darstelle. Auch wenn Foucault vor den Fallstricken der "Staatsphobie" wie vor der Totalisierung des Staates warnte, nahm er den Staat doch ernst und thematisierte ihn von der Gesellschaft her als "Effekt sozialer Praktiken und von Technologien des Regierens" (11).
Thomas Lemke weist auf das Potenzial für die materialistische Staatstheorie hin. Foucaults Untersuchung der historisch spezifischen Anwendungsweisen politischen Wissens über die Regierung der Bevölkerung erhellt das Wechselverhältnis von Staat und Wissen sowie die Dialektik von Staatsformierung und Zugriff auf Individuen und Bevölkerung. Wie schon in Poulantzas' Staatstheorie wird auch bei Foucault der Staat als Effekt, Instrument und Feld politischer Strategien verstanden, in Lemkes Worten als "willentlich geschaffener Zweckverband" und als "Form, in der die Gesellschaft sich als einheitlicher, lenkbarer und veränderbarer - als disziplinierter und organisierbarer - Korpus erfährt" (55). Diesem Staatsbegriff entsprechend, umfasst die Analyse von Staatlichkeit wesentlich auch den Komplex der Subjektkonstitution, wobei die Verschränkung von Wissenssystemen und Machttechnologien bei der Regulierung des Bevölkerungskörpers wie auch des Einzelnen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden - eine nach Lemke sinnvolle Verfeinerung des analytischen Werkzeugs der materialistischen Staatstheorie. - Anne Caldwell untersucht, wie sich aufgrund der Existenz des "Menschenrechtskomplexes [HRC]" (107) die Mechanismen, Logiken und Rechtfertigungsmuster staatlicher Souveränität weltpolitisch modifiziert haben. Zum Verständnis der gegenwärtigen Formen souveräner Macht und der Entstehung einer neuen rechtlichen Weltordnung schlägt sie vor, an Agambens Bemerkungen über die biopolitische Souveränität und die Bedeutung des Ausnahmezustands anzuschließen. Beim HRC geht es um die Rechtfertigung politischer Interventionen, die nicht mehr nur auf nationaler, sondern auf globaler Ebene operieren. Caldwell verdeutlicht, welchen Transformationen die Rechtfertigung weltpolitischer Politik unterliegt und zeigt auf, wie die Außerkraftsetzung des Rechts in Beziehung bleibt zur (Menschen-)Rechtsordnung. - Susanne Krasmann und Sven Opitz widmen sich der Frage, wie sicherheitspolitische Praktiken sozialer Ein- und Ausschließung die "Schwelle bereiten, an der die (neo)liberale Gouvernementalität die Chance der Illiberalität ergreift" (127). Unter Berufung auf den Schutz der Bevölkerung vor inneren und äußeren Gefahren werden jenseits der herkömmlichen Grenzen neue Formen der sicherheitspolitischen Intervention legitimiert, wie am Beispiel des "Feindstrafrechts" aufgezeigt wird. Interessant wäre es gewesen, wenn Krasmann/Opitz ihre Überlegungen zur "Regierung und Exklusion" erweitert hätten um die Programmatik ›ökonomischer Sicherheit‹ und die repressiven und ausschließenden Wirkungen, die vom neoliberalen Diskurs der Wettbewerbsfähigkeit ausgehen. - Sophia Prinz und Ulf Wuggenig veranschaulichen am Beispiel der Hochschulreform die Tendenz zum Illiberalen in der gegenwärtigen Regierungsweise. An der Rolle, die die Universitäten für die Wettbewerbsfähigkeit spielen, zeigen sie auf, wie neoliberale und disziplinäre Machttechnologien ineinander greifen. Die Hochschulreform im Zeichen des Bologna-Prozesses zeige, wie die neoliberale Regierungsweise aller Freiheits- und Marktrhetorik zum Trotz stets angewiesen ist auf disziplinäre, bürokratische Strukturen und planerische Eingriffe der Politik von oben. - Stefanie Graefe untersucht das neoliberale Leitbild des ›unternehmerischen Selbst‹. Sie weist auf den "niedrigschwelligen Ausnahmezustand" (270) hin, der eintritt, wenn Anforderungen im Sinne des ›guten Subjekts‹ (Althusser) nicht erfüllt werden. Der "Ausnahmezustand" wirke nicht nur da, wo soziale Rechte bereits abgebaut sind, sondern auch da, "wo man fürchten muss, dass dies irgendwann geschieht, also im Alltag, im Inneren der neoliberalen Normalität" (280). Doch ob diese "Politik der allgemeinen Verunsicherung" widerspruchslos von den Subjekten hingenommen wird, stehe in Zweifel. Ängste, Begehren und abweichende Vorstellungen weisen zugleich über die neoliberale Quasi-Anthropologie hinaus.
Dieser erfrischende Hinweis auf gesellschaftliche Antagonismen und die Bedeutung von sozialem Handeln ist in den Analysen in der Tradition der ›gouvernementality studies‹ keineswegs selbstverständlich. Oft bleiben sie in der Rekonstruktion der impliziten Logik der politischen Programme verhaftet, ohne deren Relevanz in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu beachten - ein Vorwurf, der auf einen Großteil des Buches nicht zutrifft.
Patrick Eser

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 588-589