Katharina Bluhm: Experimentierfeld Ostmitteleuropa? Deutsche Unternehmen in Polen und der Tschechischen Republik. Wiesbaden 2007. 303 S.
Verf. hält den in der Öffentlichkeit - auch unter Linken - verbreiteten Klischees vom hyperliberalen Osteuropa, welches vorrangig mittels Niedrigstlöhnen und -steuern deutsche Investoren lockt, die diese Länder dann strategisch für "arbeitspolitische Experimente in Richtung Deregulierung und Amerikanisierung" nutzen (15), ein differenziertes Bild entgegen. Ihre zentrale These lautet, dass die Westintegration Osteuropas zu einer Neuordnung gesamteuropäischer Produktionsnetzwerke gemäss eines Musters "komplementärer Spezialisierung mit offenem Ausgang" (128ff) führt, in der die neuen Standorte zunehmend die Produktion komplexer, qualitativ hochwertiger industrieller Güter übernehmen, wie sie auch für die westlichen Standorte charakteristisch sind.
Deutschen Unternehmen ermöglicht dies eine modifizierte Fortführung ihrer in den 1980er Jahren eingeschlagenen Strategie der diversifizierten Qualitätsproduktion. Ging diese ursprünglich mit der Spezialisierung in Hochpreismarktsegmenten einher, so erlaubt - und erzwingt - die Einbindung osteuropäischer Standorte die Verbindung von Qualitätsproduktion mit niedrigen Produktionskosten.
Die komplementäre Spezialisierung mit offenem Ausgang ist institutionell voraussetzungsvoll, und kann gleichzeitig von den derzeit in der vergleichenden Kapitalismusforschung vorherrschenden institutionellen Ansätzen - varieties of capitalism von Peter Hall and David Soskice oder business systems von Richard Whitley - aus mehreren Gründen nicht adäquat erfasst werden. Erstens haben beide Ansätze Schwierigkeiten, veränderte Internationalisierungsstrategien von Unternehmen seit den 1990er Jahren zu erklären. Ein zentrales Problem dabei ist das beide Ansätze sich allein auf die entwickelten Marktwirtschaften beschränken und damit die zentrale Rolle, die kostenmotivierte Verlagerungen seit den 1990er Jahren haben, völlig übersehen. Zweitens ignorieren sie den Veränderungsdruck, der von Produktionsverlagerungen auf die angestammten institutionellen Systeme ausgeübt wird. Drittens unterschätzen sie den zunehmenden Einfluss transnationaler Institutionen und Akteure.
Komplementäre Spezialisierung führt nicht nur zu Anpassungsdruck im Heimatland der international engagierten Unternehmen, sie ist auch voraussetzungsvoll für die Gastländer. Im zweiten Teil ihres Buches zeichnet Bluhm detailliert die in Polen und Tschechien entstandenen Kapitalismusmodelle nach, wobei sie nicht nur den nationalen Konfigurationen, sondern auch dem Einfluss der EU große Aufmerksamkeit schenkt. Sie konstatiert die Herausbildung eines "liberalisierten kontinentaleuropäischen Kapitalismus" (62ff), in dem sich Elemente von Marktliberalismus, Korporatismus und Etatismus kombinieren. Die häufig vorfindbare Vorstellung von Osteuropa als hyperliberales ›Unternehmensparadies‹ geht also in die Irre.
Kernstück der Arbeit bilden 25 Unternehmensfallstudien, auf deren Basis Bluhm die Herausbildung der komplementären Spezialisierung und ihre Auswirkungen auf die betriebliche Arbeitspolitik nachzeichnet. Als wesentliche Ursachen der Enstehung der komplementären Spezialisierung führt sie erstens die Deregulierung und Integration der europäischen Märkte an, die die westlichen Unternehmen dazu zwang, ihre ursprünglich anvisierte Trennung von Märkten gemäß der Formel "kostenmotivierte Komponentenfertigung für den Westen und Erschliessung des östlichen Marktes" (156) in Richtung gesamteuropäisch ausgerichteter Strategien zu überdenken. Zweitens geraten insbesondere kapitalmarktorientierte deutsche Unternehmen zunehmend unter Druck, ihre Produktion zu rationalisieren. Drittens spielen Unternehmenstöchter in Ostmitteleuropa, die aktiv nach Mandatserweiterung suchen, eine zentrale Rolle für die Aufwertung der Standorte.
Die zentrale Erkenntnis der Arbeit in Hinblick auf die betriebliche Arbeitspolitik schließlich lautet, dass sich ergänzend zur komplementären Spezialisierung "in Ostmitteleuropa ein neues arbeitspolitisches Muster herausbildet, das sich von der traditionellen Low-Road- Strategie wie auch der High-Road Strategie unterscheidet". Dieses "entsteht nicht aus einem radikalen Strategiewechsel, sondern kombiniert Elemente aus beiden Strategien. Es verbindet eine starke Orientierung auf Qualitätsproduktion [...], eine selektive Beschäftigungssicherheit und eher kooperative, aber betriebszentrierte Arbeitsbeziehungen mit einer Strategie der möglichst langfristigen Wahrung des komparativen Kostenvorteils" (198).
Durch die ganze Arbeit zieht sich die Frage, wie sich die komplementäre Spezialisierung auf die westlichen Standorte und Institutionen auswirkt. Bluhm sieht diese unter erheblichen Anpassungsdruck. Die Verlagerungsdynamik hat zwar nicht zu einem Abbau, wohl aber zu einer ›umkämpften Stagnation‹ der Beschäftigungsentwicklung in den betroffenen Branchen geführt, die von den Gewerkschaften erhebliche Konzessionen abverlangt. Zudem hat die komplementäre Spezialisierung einen offenen Ausgang und ist mit der EU-Erweiterung nicht abgeschlossen, das Verhältnis von Neuinvestitionen in komplexe Tätigkeiten zwischen Ost und West kann sich also sehr wohl weiter zugunsten des Ostens entwickeln. Schließlich setzt das osteuropäische arbeitspolitische Muster Westeuropa erheblich unter Druck, eben weil es Qualität mit Preiskonkurrenz verbindet. Bluhm hält daher langfristig eine institutionelle Konvergenz zwischen West- und Osteuropa für möglich.
Die einzige Schwäche des Buches ist, dass es nicht immer gelingt, sämtliche Fäden erfolgreich zusammenzuknüpfen. Dies liegt daran, dass das Buch in "vier relativ selbstständige Teilstudien" gegliedert ist (17), die untereinander nur lose verbunden sind. So bleibt zum Beispiel unklar, welche Rolle der viel Raum einnehmende Vergleich des polnischen und tschechischen Kapitalismus für die Arbeit letztendlich hat, da die hier herausgearbeiteten Unterschiede für Unternehmensstrategien nicht wichtig zu sein scheinen. Auch wäre es vom Untersuchungsdesign überzeugender gewesen, hätte Bluhm den Vergleich zwischen Ost und West sowie zwischen Strategien des Mutter- und Tochterunternehmens systematisch angegangen, um die Ähnlichkeiten, Unterschiede und Rückwirkungen genauer herauszuarbeiten. Diese Kritikpunkte schmälern jedoch nicht das Verdienst des Buches, einen überaus lesenswerten Beitrag sowohl zur theoretischen Debatte in der vergleichenden Kapitalismusforschung wie auch zur empirischen Bestandsaufnahme der Strategien deutscher Unternehmen im Osten zu leisten..
Dorothee Bohle