Markus Wissen, Bernd Röttger u. Susanne Heeg (Hg.): Politics of Scale: Räume der Globalisierung und Perspektiven emanzipatorischer Politik. Münster 2008. 317 S.
Der ›Spatial Turn‹ in den kritischen Sozialwissenschaften wird hier von Rianne Mahon und Roger Keil vor dem Hintergrund der traditionellen Skepsis der Linken gegenüber dem Raum dargestellt: "Beim Raum ging es um den Staat. Bei der Zeit ging es um die Revolution." (35) Dann aber kam die sog. Globalisierung, und die Linke musste lernen, dass, so Markus Wissen, soziale Kämpfe auch immer eine räumliche Dimension haben, und dass die Reorganisation von Raum "ebenso Voraussetzung wie Medium und Resultat der Verschiebung sozialer Kräfteverhältnisse" ist (9). Es geht aber nicht einfach nur um den Raum, sondern um eine weitere Kategorie der Raumforschung, die Scale. Neil Brenner unterscheidet vier "Dimensionen der Räumlichkeit sozialer Prozesse", und argumentiert, dass keine Perspektive, die eine dieser Dimensionen privilegiert, vollständig sein kann: das "Prinzip des Ortes", der geographischen Nähe, der lokalen Einbettung der sozialen Prozesse; das Prinzip der Territorialität, des Ein- und Ausschlusses; jenes des Scaling, der vertikalen Differenzierung sozialer Beziehungen; und das der Vernetzung (60f). Warum also der Fokus auf Scale? Der Grund dafür liegt in der Globalisierungsdebatte. Dort dominierte zuerst die Darstellung der Globalisierung als Naturereignis und Sachzwang. Es kam, so Bernd Belina, zur Naturalisierung der globalen Scale und ihrer Dominanz über andere (115). Die linke Antwort auf diese Tendenz beging nun denselben Fehler und flüchtete sich in einen defensiven Lokalismus, oder das, was Matthias Bernt und Christoph Görg die "lure of the local" nennen: eine Betrachtungsweise, welche "die lokale Ebene geradezu als Gegengewicht zur Globalisierung, als Refugium alternativer Lebensweisen" konstruiert (226). Gegen diese Tendenz zur Glorifizierung sowohl des Globalen als auch des Lokalen entfaltet das Scale-Konzept seine Kraft. Zentrales Argument ist, dass räumliche Maßstabsebenen - also das ›Lokale‹, ›Nationale‹, ›Globale‹ etc. - "nicht vorgegeben existieren, sondern sozial konstruiert oder produziert werden" (209). Das heißt, dass auch das Lokale nicht a priori als Ort einer emanzipatorischen Praxis angesehen werden kann, sondern zuerst auf die dort vorherrschenden, und eine Lokalität erst als solche produzierenden, sozialen Kräfteverhältnisse hin untersucht werden muss.Anke Strüvers feministische Perspektive auf die Debatte wirft hier aber eine interessante Frage auf: Kann es sein, dass die Kritik an der Überhöhung ›des Lokalen‹ ein wenig ins Leere läuft, weil sie auf eine Strohfrau zielt? Kann es sein, dass die Konzentration auf die lokale Ebene keine ontologische ist, sondern eine Frage des "strategischen Essentialismus " (130)? Bernt und Görg formulieren eine vorsichtige Kritik an einer Position, die nur von der "gesellschaftlichen Produktion des Raumes" ausgeht: wie kann diese mit nicht gesellschaftlich konstruierten räumlichen Dimensionen von Ökosystemen umgehen, wie z.B. der Fließrichtung eines Flusses (246)? Stefan Kipfer verteidigt Lefebvres Raumtheorie und sein Konzept des Urbanen gegen die Übernahme durch die Scale-Debatte, indem er zeigt, dass das Urbane als genuin ›multi-skalare‹ Problematik vom Scale-Konzept nicht ausreichend erfasst werden kann (99). Henning Füller und Boris Michel argumentieren, dass Scale nicht nur ein inhaltlich unscharfes Konzept sei und Gefahr liefe, eine neue Runde des sog. Raumfetischismus einzuläuten, es transportiere auch "ein sehr reduziertes Machtverständnis" (152) - und schlagen im Gegenzug eine foucaultsche Machtanalytik vor. Ulrich Brand argumentiert, dass die durchaus produktive Scale-Debatte an zwei Problemen leide: erstens an einer Untertheorisierung des Staates (174); zweitens an der irrigen Annahme, die Produktion räumlicher Maßstabsebenen sei unproblematisch und leite sich relativ direkt und ungebrochen aus den Intentionen mächtiger Akteure ab (175ff) - um diese Probleme zu umgehen, schlägt er einen Rekurs auf Poulantzas und Gramsci vor. Christoph Scheuplein geht weniger auf die Scale-Debatte als solche ein, sondern diskutiert die Herangehensweise der französischen Regulationstheorie an das Problem der sozialen Konstruktion des Raumes. Bettina Köhler wiederum zeigt die produktiven Möglichkeiten der Verbindung zwischen der Diskussion über Politics of Scale und der Debatte über Political Ecology/gesellschaftliche Naturverhältnisse auf. Die Verbindung zwischen diesen beiden Ansätzen verortet sie in einem gemeinsamen "historisch-geographisch-materialistischen" Verständnis der gesellschaftlichen Produktion des jeweiligen Analysegegenstandes: Scales in einem Falle, ›die Natur‹ im anderen (217ff), wobei Political Ecology ihrer Meinung nach dadurch bereichert würde, dass ihre Tendenz zur Naturalisierung bestimmter Maßstabsebenen problematisiert würde.
Der Untertitel des Bandes verspricht Perspektiven emanzipatorischer Politik - diese kommen jedoch zu kurz. Erst die zwei letzten Beiträge nehmen sich dieser Frage ernsthaft an. Margit Mayer analysiert die multiskalaren Praxen städtischer und globaler sozialer Bewegungen als Reaktion auf das scale-jumping verschiedener Machtapparate, auf welche sich diese Bewegungen beziehen. Es wird deutlich, wie lokale Bewegungen auf Protestrepertoire und auch Machtressourcen anderer Scales zurückgreifen ebenso, wie sog. globale Bewegungen immer auch in anderen Scales verwurzelt sind. Sie weist aber darauf hin, dass die von Brenner erwähnten anderen Dimensionen von Räumlichkeit ebenso notwendig sind, um die emanzipatorische Politik heutiger sozialer Bewegungen zu verstehen (281). Bernd Röttgers Beitrag sticht mit Bezug auf die Kreativität des Ansatzes und die politische Qualität der formulierten These hervor: Sich auf einen Gramsci beziehend, der über den bekannten Theoretiker der Hegemonie deutlich hinausgeht, argumentiert er, dass sich aus der heutigen Krise der Gewerkschaften heraus Elemente einer neuen, autonomen Arbeiterpolitik entwickeln. Er besteht darauf, dass diese neuen Kampfformen sich vor allem auf der betrieblichen Scale konstituierten, um dann von dort aus auf anderen Scales, zum Beispiel den zivilgesellschaftlichen, Bündnisse zu schmieden. - Am Ende bleibt der Eindruck, dass das zentrale Argument der Scale-Debatte, welches von Belina schon als "truism", als Gemeinplatz bezeichnet wird - nämlich dass "die räumlichen Maßstabsebenen des Sozialen gesellschaftliche Produkte sind" (111) - eine durchaus produktive Feststellung ist, aber mittlerweile eben doch auch ein Gemeinplatz. Allerdings einer, der häufig vernachlässigt wird.
Tadzio Müller