Joachim Hirsch, John Kannankulam u. Jens Wissel (Hg.): Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Baden-Baden 2008. 223 S.
Im Rahmen der Reihe "Staatsverständnisse" werden das Staatsverständnis von Karl Marx, seine Weiterentwicklung durch spätere Autoren, die Ausarbeitungen zu einer materialistischen Theorie des Staates in den 1960er und 70er Jahren und die gegenwärtigen staatstheoretischen Debatten vorgestellt und diskutiert.
Der Band beschränkt sich auf die Entwicklung der staatstheoretischen Überlegungen in der Tradition des ›westlichen Marxismus‹, weil diese im Gegensatz zum Marxismus-Leninismus des realexistierenden Sozialismus "den Charakter einer unabhängigen kritischen Theorie" bewahrt habe, sich durch ein "differenziertes Marx-Verständnis" auszeichne, und "auch theoretisch produktivere und weiterführende Ergebnisse hervorgebracht" habe (18).
In der Einleitung weisen Hg. darauf hin, dass entgegen landläufiger Meinung bei Marx nicht von einem verkürzten Staatsverständnis gesprochen werden kann. Bekanntermaßen habe Marx zwar nie, obwohl beabsichtigt, eine ausgearbeitete Staatstheorie vorgelegt, doch könne man sowohl in seiner Auseinandersetzung mit Hegel in den Frühschriften (die im Beitrag von Helmut Reichelt behandelt werden) wie auch in seinen zeitgenössischen politischen Analysen und Kritiken (im Fokus von Frank Deppe) eine sehr entwickelte Vorstellung von Staat erkennen. Die Schwierigkeit bestehe darin, die in unterschiedlichen Kontexten gemachten Äußerungen über den Staat in ein Gesamtbild einzufügen. So wird z.B. bereits in den Frühschriften der bürgerliche Staat als Klassenstaat begriffen. Doch wesentliche Gedanken der marxschen "materialistischen Wende", wie z.B., dass der bürgerliche Staat aus den materiellen Lebensverhältnissen erklärt werden muss und dass ›Staat‹ nur eine bestimmte soziale, d.h. die politische Form ist, hinter der sich viel komplexere gesellschaftliche Verhältnisse verbergen, finden sich erst in den späteren Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie (12f). Schließlich wurde die schon Marx interessierende Frage, warum die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft einer bestimmten Form der politischen Organisation, nämlich des Staates, bedarf, zur leitenden Fragestellung aller nachfolgenden marxistischen Autoren. Materialistische Staatstheorie ist also wesentlich Staatskritik, und es geht ihr vor allem darum, Staat als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse zu begreifen, aus der ihre politische Schlussfolgerung resultiert, dass diese Herrschaftsverhältnisse nur durch die Aufhebung des Staates beseitigt werden können. - Der Auseinandersetzung mit dem marxschen Werk folgen Beiträge zur weiteren Entwicklung. Thomas Gehrig schreibt über Staatsverständnisse in der marxistischen Sozialdemokratie. Unter dem Eindruck der zunehmenden politischparlamentarischen Bedeutung der Sozialdemokratie nach Marx' Tod und der Erkenntnis, dass die erwartete Revolution nicht stattfindet, kam es zu einer Revision der revolutionären marxschen Perspektive, die sich auf unterschiedliche Weise in den theoretischen Schriften von Bernstein und Kautsky widerspiegelt. Ebenso habe sich Lenins Staatsverständnis an praktischen Fragen entfaltet, allerdings für ihn im Kontext der tatsächlich bevorstehenden Revolution. Anders als von Gehrig behauptet, ist Lenins Staatsverständnis jedoch keineswegs so instrumentell wie bei Bernstein und Kaustky. Gerade Lenin problematisierte in seiner Schrift "Staat und Revolution" die Grenzen einer Instrumentalisierung des Staates und seiner Bürokratie. Luxemburg, der Gehrig im Gegenzug ein nicht-instrumentelles Staatsverständnis attestiert, hatte schließlich in Deutschland mit anderen politischen Verhältnissen zu tun als Lenin.
Den ›westlichen Marxismus‹ in Gestalt der Hegemonietheorie Gramscis, der strukturalistischen Theorie Althussers, der klassentheoretisch orientierten Staatstheorie Poulantzas' und der westdeutschen ›Staatsableitungsdebatte‹ stellen Hg. vor. Diesen Ansätzen sei gemeinsam, die marxistische Staatstheorie um wichtige Elemente erweitert zu haben, indem sie z.B. den Begriff des Staates um neue Kategorien ergänzt (Gramsci), das marxsche Basis-Überbau-Verhältnis neu interpretiert (Althusser) oder zwischen Staatsapparaten und Staatsmacht unterschieden haben (Poulantzas). Hg. kritisieren das Fehlen einer Formanalyse bei diesen Theoretikern, wie sie Marx für die Ökonomie vornahm und wie sie - allerdings mit Mängeln - in der Staatsableitungsdebatte versucht wurde. Diese Theorien könnten aber trotzdem fruchtbar gemacht werden für die notwendige Analyse der gegenwärtigen Entwicklung einer Internationalisierung des Staates. - Einen spezifischeren Blick werfen Ersin Yildiz auf die Entwicklung einer materialistischen Rechtstheorie und Evi Genetti auf eine feministische Kritik materialistischer Staatstheorie. Yildiz diskutiert ausgehend von den verfassungstheoretischen Schriften von Marx die Entwicklung einer materialistischen Theorie des Rechts. Dabei geht es einerseits um die Frage, welche Funktion das Recht für die bürgerliche Gesellschaft in ihren Epochen jeweils hatte, und andererseits, welche Rolle es im Hinblick auf den Übergang zum Sozialismus spielt (beispielhaft hierfür die Weimarer Rechtsdebatten). Genetti zeigt, dass mittels einer um Geschlechterverhältnisse erweiterten materialistischen Staatstheorie auch das Verhältnis von bürgerlichem Staat und geschlechtlichen Herrschaftsverhältnissen erklärt werden kann. Ähnlich wie die Klassen sind diese in den Staat auf eine bestimmte Art und Weise eingeschrieben.
Bob Jessop, Stephan Adolphs sowie Josef Esser konfrontieren materialistische Staatstheorie mit anderen, neueren gesellschaftstheoretischen Ansätzen. Jessop beleuchtet die mögliche Bedeutung, die die Theorien von Niklas Luhmann und Laclau/Mouffe für eine Weiterentwicklung der marxistischen Staatstheorie haben könnten. Bei Luhmann hofft Jessop eine Antwort auf die oft gestellte Frage nach der tatsächlichen Bedeutung des poulantzas'schen Begriffs der "relativen Autonomie" des Staates zu finden (159), während er sich mittels Laclau/Mouffes "diskurspolitischer Wende" (157) (oder Abkehr vom Marxismus) eine Überwindung ökonomistischer und klassenreduktionistischer Tendenzen im Marxismus erhofft. Dies ist widersprüchlich bzw. unverständlich, da Jessop selbst diese Kritik zurückweist und sie für die gegenwärtige materialistische Staatstheorie nicht zutrifft. - Adolphs vergleicht Foucaults Gouvernementalitätsansatz mit Poulantzas' Staatstheorie. Beide Ansätze würden sich insofern ergänzen, als sie für eine Perspektive gesellschaftlicher Transformation sowohl soziale Verhältnisse als auch Subjektkonstituierungen berücksichtigen. - Esser untersucht das gestörte Verhältnis von materialistischer Staatstheorie und deutscher Politikwissenschaft. Während es in den 1960er und 70er Jahren auch von Seiten der "Mainstream-Politikwissenschaft" eine Auseinandersetzung gab, wird die materialistische Staatstheorie heute entweder ignoriert oder als überholt gewertet (203f). Im Gegensatz dazu führt Esser die angelsächsische Staatsdiskussion an, insbesondere die neopluralistische Staatsanalyse von Charles Lindblom sowie die neoinstitutionalistisch inspirierte "Bringing-the-State-Back-In"-Debatte (205f). Erstere kritisiert die liberalen Demokratietheorien und ihre Nicht-Thematisierung der Rolle des Eigentums und der privilegierten Rolle der Ökonomie in liberaldemokratischen Gesellschaften und bezieht sich in ihrer Kritik auf Marx. Letztere versuchte mittels einer Kritik materialistischer Staatstheorie, den ›Staat‹ als entscheidenden Akteur in der wissenschaftlichen Debatte zu rehabilitieren. Materialistischer Staatstheorie wurde dabei vor allem vorgeworfen, als gesellschaftszentrierter Ansatz die Autonomie der staatlichen Institutionen nicht wahrzunehmen. Diesem Vorwurf begegnet Esser mit dem Hinweis auf die elaborierten und differenzierten Ansätze von Poulantzas und von Claus Offe. Beiden attestiert er ein gerade nicht auf gesellschaftliche Klassen bzw. auf die Rolle des Staates bezüglich der Ökonomie reduziertes Staatsverständnis.
Florian Flörsheimer