Chris Harman: A People's History of the World. London 2008. 760 S.

Diese Weltgeschichte erweckt auf den ersten Blick den Eindruck einer weiteren Abrechnung mit gängigen ahistorischen Thesen wie die vom ›Ende der Geschichte‹ oder den essenzialistischen Ansätzen, welche die Hauptmerkmale der Menschheitsgeschichte allein auf die ›menschliche Natur‹ zurückführen. Mit dem Argument, die menschliche Natur sei selbst ein Produkt der Geschichte und nicht deren Ursache (IV), widerspricht Verf. zum einen den Versuchen, die Grausamkeiten in der Weltgeschichte einer ›unveränderlichen‹ menschlichen Natur zuzuschreiben. Zum anderen erschüttert er die Überzeugung von der Dauerhaftigkeit des Kapitalismus, indem er darauf hinweist, wie irrational es ist, einen quantitativ unbedeutenden Teil der Menschheitsgeschichte für ewig zu halten.

In diesem Sinne kämpft Verf. an zwei relativ breitgetretenen Fronten: gegen absolute Pessimisten, die aufgrund der angeblich bestialischen menschlichen Natur keinen Ausweg sehen, sowie gegen blinde Optimisten, welche die Klassenkämpfe und Ideologien verschwunden wähnen.
Dagegen sieht Verf. in den Massen eine Haupttriebfeder der Weltgeschichte und geht zugleich von der Vergänglichkeit der Klassengesellschaft aus. Von diesen Vorannahmen ausgehend zeichnet Verf. den Entwicklungsprozess von der Neolithischen Revolution bis zur "neuen Weltunordnung" nach. Er versucht, die Gesamtgeschichte ›von unten‹ zu schreiben, ohne den Blick für strukturelle Zusammenhänge und ausschlaggebende historische Eckpunkte zu verlieren. Der Zusammenhang zwischen der Herstellung von Mehrprodukt und der Entstehung von Herrschaft zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Von der Sesshaftwerdung bis zu den postindustriellen Gesellschaften wird die mit dem Aufstieg der Klassengesellschaft zusammenhängende Misere der Massen als die Kehrseite des materiellen Fortschritts dargestellt (9). Die Klassengesellschaft sei ein Produkt der letzten 5000 Jahre, entstanden ca. um 3000 v. Chr. im Vorderen Orient (3, 8, 17). Am Beispiel der vergangenen großen Zivilisationen, wie der Maya (35), deren Untergangsgründe eigentlich recht umstritten sind, wird auf eine universale Gefahr hingewiesen, der sich - wie jede Klassengesellschaft - auch die kapitalistische gegenübersieht, nämlich der Untergang der Zivilisationen aufgrund des Parasitismus der Führungsschichten, die von den Erzeugnissen der Beherrschten leben und nicht mehr in die Verbesserung des menschlichen Lebens investieren (35).
Nach Ansicht von Verf. wirkten beim Aufkommen der voneinander unabhängigen Sozialstrukturen der Chinesen, Inder, Griechen und Römer bestimmte Veränderungen in Arbeit und Handel in erstaunlich vergleichbarer Weise auf die Entwicklungsdynamiken der Sozialstrukturen - etwa die Nutzung von Eisen, die Zunahme von neuen Handwerken und vom Fernhandel, aber auch der Aufstieg der ›universalistischen‹ Religionen oder die Einführung phonetischer Alphabete (45). Die späteren Disparitäten seien auf geographische Unterschiede und im Fall der Griechen und Römer auf die Rolle der Sklavenarbeit zurückzuführen (64ff). Gegen die These, der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus sei aus einer inneren Stärke des Westens zu erklären, wird darauf hingewiesen, dass dieser vielmehr in der Rückständigkeit Europas begründet sei, also in der Abwesenheit superstruktureller Altlasten und in dem Vorrang der Produktion des Notwendigen lag (141). Was in der europäischen Geschichte mit geistig-intellektueller Entwicklung in Verbindung gebracht wird, habe strukturelle Gründe: Die Reformation sei vielmehr das Resultat widerstreitender Interessen als ein Kampf der Ideen (185), die Aufklärung ein Ausdruck kumulativer Transformationen infolge der sich seit einigen Jahrhunderten in Europa entwickelten Marktbeziehungen (247). Mehr als die Hälfte des Buches ist dem modernen Kapitalismus gewidmet, der nur einen ganz kleinen Teil der bisherigen Menschheitsgeschichte ausmacht. Vor allem im beschleunigten, industriellen Zeitalter bis heute wird der nichtwestlichen Welt eine Nebenrolle zugeteilt. Obschon Verf. den islamischen Beitrag zur europäischen Aufklärung anerkennt oder der eurozentrischen Enthistorisierung Afrikas die "zivilisierten" Gesellschaften auf dem afrikanischen Kontinent vor der Kolonisierung entgegenstellt, erscheinen die vorherigen Kapitel der Menschheitsgeschichte als bloßes Vorspiel für die Entwicklung der westlichen Bourgeoisie.
Um die historische Rolle der Massen zu betonen, verwandelt Verf. die Dialektik in einen groben Antagonismus, indem er sich die Beherrschten in stetigem Kampf um eine bessere Welt gegen die "gierigen" Herrscher ausmalt. Der Verweis, die Arbeiterklasse hätte den kleinsten Anteil unter den Unterstützern des Naziregimes (484), oder das Zuschieben des Stalinismus als Staatskapitalismus auf die Gegenseite (511) klingen wie ein Distanzierungsversuch. Die Idealisierung eines noch interpretationsoffenen "Goldenen Zeitalters" vor dem Aufkommen der Klassengesellschaft, in dem angeblich Egalitarismus existierte (15), oder die Verurteilung des bestehenden Systems durch starke Worte wie "die irrsinnige Logik des Kapitalismus" (608) sowie das Träumen von einer "universalen Klasse" (613), deren Konturen noch lange nicht festgelegt sind, stellen die Schwachstellen dieses Werks dar. Verf. versucht, die Weltgeschichte als Kapitalismuskritik neu zu fassen. Dabei tappt er in die Falle der gegenwärtigen antikapitalistischen Rhetorik, die klagt, aber, ohne die historischen Errungenschaften in Bausch und Bogen zu verwerfen, der Menschheit keine besseren Lebensformen aufzeigt.
Asli Vatansever

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 625-626