Eine Kritik und eine Erwiderung

Hannes Hofbauer: EU-Osterweiterung. Historische Basis - ökonomische Triebkräfte - soziale Folgen. Wien 2007. 319 S.

Die Deutung der Transformationsprozesse in Ostmitteleuropa scheint zwanzig Jahre nach dem "annus mirabilis" 1989 entschieden zu sein. Unisono überschlugen sich im Jubiläumsjahr 2009 Medien und politische Elite in feierlichen Phrasen, das Vokabular der Transformation lebt von "Freiheit", "Wohlstand", "Frieden". Die Wendedekade im aufgelösten RGW-Raum, die an das kurze zwanzigste Jahrhundert anschließt, mag für manchen Staat und manche Menschen von Anstrengungen und Verzicht gekennzeichnet sein; die aber seien nötig gewesen, so die dominierende Lesart, um diese Staaten "zurück nach Europa", aus sozialistischer Diktatur und Misswirtschaft in Demokratie und Marktwirtschaft zu holen und ihnen den Reichtum der Europäischen Union angedeihen zu lassen.

Geschehen ist dieser quasi-karitative Akt auf Wunsch der Bevölkerung, die sich in "samtenen Revolutionen" friedlich aus dem Joch der kommunistischen Diktatur befreit und in Referenda den Weg zur EU eingeschlagen hat.
In diesem öffentlichen Konzert sind die Zwischenrufe von Hannes Hofbauer zur Einordnung der Osterweiterung eine wahre Wohltat.
Der österreichische Publizist Hofbauer, studierter Wirtschafts- und Sozialhistoriker, legt in zweiter, umfassend überarbeiteter Auflage eine Kritik der Osterweiterung vor, die, ohne dass es explizit benannt würde, auf einer kritischen Analyse der politischen Ökonomie der Osterweiterung fußt und die Expansion EU-europäischen und nordamerikanischen Kapitals nach Ostmitteleuropa in die Hegemoniegeschichte Kontinentaleuropas stellt. Die sieben Kapitel des Buches bieten eine historische Genese der Erweiterung von 2004 und 2007, zehn Länderstudien zu den beigetretenen Staaten sowie Kroatien, und eine abschließende wirtschaftsgeographische und militärpolitische Verortung der Erweiterung. Umfassende Endnoten, ein Statistikblatt mit Strukturdaten und eine unkommentierte Auflistung von Zeitungen, Gesprächspartnern und Internetadressen, die der Autor wohl zu Rate gezogen hat, runden das Buch ab.
Schon der begriffshistorische Einstieg in die Thematik macht die Stoßrichtung klar: Die Europa-Idee ist seit dem Mittelalter aggressiv-imperialistisch ausgerichtet (13 f.) und dient der geopolitischen und wirtschaftlichen Besserstellung mitteleuropäischer Akteure. Kolonialismus, Imperialismus und Nationalismus werden im Galoppritt durch tausend Jahre europäische Geschichte zu "Erweiterungstheorien" eingestampft, um die Osterweiterung als "konkret gewordenes Angebot zur Kolonisierung von Teilen des Ostens (...), im EU-Deutsch 'Integration' genannt", beschreiben zu können (17). Die explizierte Metaebene beschränkt sich auf Zentrum-Peripherie-Beziehungen im Sinne weltsystemischer Ansätze: Gleich, ob das westliche Zentrum nun Rom, Wien, Paris, Berlin oder Brüssel ist - vom Heiligen Römischen Reich über Napoleon und das nationalsozialistische Deutschland führt eine ideelle Gerade zur Osterweiterung der EU. Integration und Wohlstand des Zentrums hängen unmittelbar mit Desintegration und Verarmung der Peripherie zusammen.
Hofbauer erklärt die amerikanische Kapitalhegemonie, institutionalisiert in Bretton Woods und flankiert durch die Kapitalmauer von Marshall-Plan und COCOM, zur Basis der nachhaltigen Teilung Europas und legt dar, wie von Washington und Brüssel aus die europäischen Transformationsökonomien zu Währungskonvertibilität, strikter Haushaltsdisziplin, Preisliberalisierung und restriktiver Geldpolitik gebracht wurden (34 ff.). Abweichungen vom sozialen Kahlschlag und dem Ausverkauf der angeschlagenen Volkswirtschaften im Rahmen einer zügigen Privatisierung seien keine realen Politikoptionen gewesen (47 ff.). Seinen Abschluss findet die historische Genese in einem Abriss der europäischen Integrationsgeschichte bis zur Unterzeichnung der Beitrittsverträge 2003 (65 ff.).
Die Länderstudien bemühen sich, den so ausgerollten roten Faden aufzunehmen: In Einzelbetrachtungen mit höchst unterschiedlichem Umfang (zwischen sieben und 27 Seiten) zeigt der Autor die sozioökonomische Entwicklung der einzelnen Nationalökonomien auf, indem er den Einzug neoliberaler Wirtschaftsstrukturen, vor allem in der Geld- und Außenhandelspolitik, darlegt und deren Auswirkungen mal auf die Arbeitsmärkte, mal die sozialen Sicherungssysteme oder die Landwirtschaft erläutert und textlich in reportageartige Elemente einbettet.
Diese Vorarbeiten führen gewissermaßen teleologisch zur abschließenden Einordnung: Die vom "Westen" betriebene (erneute) Peripherisierung Ostmitteleuropas im Rahmen der Osterweiterung sichert den Reichtum des Zentrums, indem sie Armut am Rande produziert. Als Beweis führt Hofbauer die Kapitalflüsse an. Investitionen und Kredite fließen von West nach Ost, Gewinne und Ratenzahlungen von Ost nach West. Jene Regierungen der Region, die nicht in die Schuldenfalle getappt sind, wurden gezielt als nationalistisch oder diktatorisch diskreditiert und letztlich angesichts der militärischen Gewalt der NATO im ehemaligen Jugoslawien 1999 zum Beitritt bewogen. Nach außen dient dem westlichen Kapital die NATO, im Inneren betreibt die EU mittels schneller Eingreiftruppen keine Sozial-, sondern eine Interventionspolitik. Das Kapital lässt keine Wahl.
Seine zum Teil scharfen Thesen schreibt Hofbauer als Publizist, nicht als Wissenschaftler. Sprache und Stil bedürfen nicht nur der Gewöhnung, sondern auch eines gewissen Wohlwollens, Begriffe sind häufig unscharf, der Autor zieht die Zuspitzung der Differenzierung vor. Da ist die Rede von Osteuropa (8), wo ostliberale Eliten in Ostsprachen (79) Ostmärkte (267) bestellen, oder auch schlicht vom Osten (57), dem natürlich der Westen gegenübersteht, Brüssel mit seinen Westexperten. Wem das zu viel ist, der sollte dieses Buch nicht in die Hand nehmen. Hofbauers Ablehnung des Begriffs Ostmitteleuropa, auf den er nur kurz eingeht (8, 23), als ideologisch vorbelastet, ist sicherlich nachvollziehbar. An anderer Stelle legt er jedoch weit weniger Wert auf sprachliche Differenziertheit, etwa wenn er kommentarlos über "Zwischeneuropa" berichtet (12) oder Estland, Lettland und Litauen kurzerhand als Baltikum I und II zusammenfasst, wobei Estland auf der Strecke bleibt und gewissermaßen im lettisch-litauischen "Baltikum" aufgeht. Das verwundert insbesondere angesichts der einleitenden Ankündigung, Neuerung dieser Auflage sei eine "tiefer gehende Beschäftigung" mit diesen drei Staaten (7).
Wenig Tiefgang weisen leider auch einige zentrale Stellen in Hofbauers knackiger Argumentation auf. Einmal handelt es sich bei der Erweiterung "um ein im Kern christliches Projekt" (11), dann um ein militärisches; argumentiert wird jedoch fast ausschließlich sozioökonomisch. Ein Unterkapitel zu den Europa-Abkommen etwa, denen in jeder Analyse des Beitrittsprozesses eine zentrale Rolle zukommen sollte, bleibt deskriptiv und kommt vollends ohne Hinweise auf das Konditionalitätsprinzip oder eine Hinführung zu den Kopenhagener Kriterien, ohne Hinweise auf die Abgrenzung dieser Vertragstypen zu anderen wie den Partnerschafts- und Kooperationsabkommen und, wie das gesamte Buch, ohne eine Einordnung in die Beziehungen der Beitrittsländer sowie der EU zu Russland und die Sicht Russlands auf die EU-Erweiterung aus.
Hofbauers Kenntnisreichtum, der an vielen Stellen aufblitzt, leidet unter starken Verkürzungen, die seine Argumentation stellenweise willkürlich wirken lassen und dadurch letztlich schwächen. Die Werke Elias' (13) oder Habermas' und Dahrendorfs (65) werden auf Halbsätze gebracht, um diese anschließend zu widerlegen, Vertragsinhalte  und -reformen unpräzise wiedergegeben, um sie auf Argumentationslinie zu bringen (70, 75). Seine Geschichte der EU-Militärpolitik setzt erst mit Maastricht und Amsterdam ein (285), um den Zusammenhang von militärischer Gewalt und Osterweiterung zu unterstreichen; dabei verzichtet Hofbauer ausgerechnet auf die verteidigungspolitische Geschichte der europäischen Integration, die sein Argument, Europa sei eine militaristisch-imperialistische Idee, stützen würde.
Und spätestens, wenn der Autor sich erzürnt, dass die Gründungsverträge der E(W)G und deren Änderungsverträge es nicht vermochten, die konstitutionelle Monarchie in Europa zu beseitigen und die wahre Volksherrschaft einzuführen, sondern auf wirtschaftliche Integration abzielten (66), muss man sich fragen, ob er nicht das Pferd vom Schwanz her aufzäumt.
Obschon Hofbauers Stoßrichtung eindeutig ist, bleibt eine theoretische Zuordnung schwierig. Der Autor selbst verzichtet auf jede explizite Einordnung, Hobsbawm oder Altvater, Moravcsik und Vachudova, Schimmelfennig, Haas oder Belamy spielen keine Rolle, gleich ob sie die Argumentation konstruktiv bereichern oder als Gegenspieler herhalten könnten. Selbst Wallerstein kommt nur im Rahmen einer Aufzählung vor. Das wäre an sich nicht weiter schlimm, würden die Zuspitzungen im kritischen Ton mit politökonomischer, globalisierungskritischer Wortwahl nicht nach einer theoretischen wie methodischen Einordnung verlangen, um weniger zu irritieren und starke Worte auch mit starken Argumenten zu unterfüttern. Das bleibt leider aus. So wirkt Hofbauers Argumentation eklektisch bis versatzstückhaft, bleiben viele Fragen nach Quellen und Überprüfbarkeit offen.
Mal führt das zu einfachen Fragezeichen, etwa wenn als Beleg für die These vom Wandel der slowakischen Außenpolitik hin zur Erweiterung durch die NATO-Intervention von 1999 schlicht darauf verwiesen wird, der damalige "Chefökonom der HZDS" habe ihm das gesagt (257). Häufiger aber verzichtet Hofbauer bedauerlicherweise auf argumentative Schützenhilfe aus der Forschung, beispielsweise wenn die Einheitliche Europäische Akte in seiner Integrationsgeschichte nur eine Randerscheinung bleibt (65, 66), obwohl die Legitimationsforschung gerade diesem Vertrag seit einigen Jahren eine zentrale Rolle zuweist (z.B. Lord und Magnette 2004) und der Autor die mangelnde Akzeptanz der EU und ihre Ursachen durchaus gut in seine Beweisführung einbauen könnte. Auch im Methodenkasten der Disziplin, der Hofbauer zumindest sprachlich am nächsten steht, fehlen einige Werkzeuge. Hofbauer spricht in der Sprache der strukturellen Macht des Kapitals, ohne Sprache und Struktur zu benennen. Dadurch wirken seine Thesen zwar provokativ, aber nach Belieben ausgelegt und mit der Tendenz zur Verschwörungstheorie. Die (kritische) politische Ökonomie der europäischen Integration leistet seit zehn bis 15 Jahren bedeutende Beiträge zur Erklärung auch der Osterweiterung; Hofbauer nimmt kaum Gedanken und Methoden daraus auf. Die sogenannten European Round Tables als essentielle Akteure der Osterweiterung finden bei ihm überhaupt nicht statt, erleuchtende Vergleiche von Marshall-Plan und EU-Hilfsprogrammen für die ehemaligen RGW-Staaten oder Untersuchungen über das massive Outsourcing deutscher Unternehmen nach Ostmitteleuropa kommen nur als spitze Thesen vor, auf die kraftvollen Argumente und Belege aus der politischen Ökonomie (bspw. Bohle 2006, 71; Ivanova 2007; Lorentowicz et al. 2002) wartet man vergebens. So bleibt der verschwörungstheoretische Nachgeschmack, dass doch wieder bloß das anonyme Kapital und unbekannte Finanzzirkel die Strippen ziehen. Sollte es Hofbauers Ziel gewesen sein, eine interessierte Öffentlichkeit mit der politökonomischen Kritik der Erweiterung wachzurütteln, sind gerade diese Unterlassungen kontraproduktiv, denn sie lassen den Sympathisanten fragend zurück und dem Gegner viel Raum für Gegenargumente.
Dennoch ist die Lektüre des Buchs anregend. Völlig zurecht konstatiert Hofbauer eingangs, dass die erschreckend uniforme Zustimmung zur Osterweiterung im deutschsprachigen Raum bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist. Kritische Stimmen sind rar gesät, insbesondere wenn es um die Osterweiterung geht, und das vorliegende Buch lebt vom beeindruckenden Kenntnisreichtum des Autors. Davon profitiert vor allem der historische Teil, zum Beispiel wenn Hofbauer mit süffisantem Staunen feststellt, wie sehr die europäische Integration nicht nur ihre Wurzeln vor 1945 hat, sondern dass Personal, Rhetorik und Zielrichtung der Integration vor, während und nach dem Krieg nahezu übereinstimmen (26-29). Herrmann Josef Abs, im Krieg Vorstand der Deutschen Bank und Aufsichtsrat der IG Farben, nach dem Krieg Chef der Kreditanstalt für Wiederaufbau und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, wird mit einem Hohelied auf die "reichen und lohnenden Möglichkeiten" des europäischen Raums aus dem Jahr 1940 zitiert (28), das nichts anderes als die Kapital- und Warenverkehrsfreiheit der später geschaffenen EWG umschreibt; Hermann Göring gibt 1940 vor, dass "die europäischen Volkswirtschaften so vollkommen und eng wie möglich mit der großdeutschen Wirtschaft zu verflechten" seien (28); und ein Entwurf aus dem Hause Ribbentrop von 1943 über einen "Europäischen Staatenbund" klingt wie die Präambel zu einem der Gründungsverträge (29). (Dass nach Erscheinen des Buchs ein Adliger deutscher Verteidigungsminister wurde, dessen Mutter den Nachnamen Henkell-von Ribbentrop trägt, dürfte Hofbauer bestätigen.) Die gefeierte Revolution von 1989 unterzieht der Autor einer wohltuenden De-Mystifizierung, indem er auf wenigen Seiten die Dramaturgie des Aufstiegs Havels zum Republikgründer skizziert und fragt, was die Hinrichtung Ceauçescus mit der Schuldenfreiheit Rumäniens (45-46) und die finanzpolitischen Vorstellungen eines Leszek Balcerowicz mit der Arbeiterbewegung Solidarnosc verbindet (47-51). Sorgfältige Recherche und hohe Informationsdichte zeichnen insbesondere die Ausführungen zum Zustand der EU-Außengrenze und zur unternehmerischen Ostexpansion aus, wenn etwa detailreich "Tragödien" beim Versuch der Flucht in die EU aufgezählt (283-284) beziehungsweise die großen Finanz- und Industrieunternehmen wie AIG, Commercial Union, Société Générale, Renault, VW oder Heidelberger Zement länderweise beim Namen genannt werden.
Mit dem Kenntnisreichtum des Autors scheint es sich ähnlich zu verhalten wie mit dem Verhalten der west- und mitteleuropäischen Banken bei der Transformation des Bankensektors in Ostmitteleuropa: "Die historische Nähe wird durch eine geographische und sprachliche ergänzt." (266) Wie bei den österreichischen Banken liegen auch des Autors Stärken in der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn. Der Anspruch, eine strukturelle Kritik mit Länderstudien aus allen Beitrittsstaaten zu untermauern, ist hoch gesteckt. Hofbauer scheitert. In den meisten Ländern, vor allem auf dem östlichen Balkan und im Baltikum, bleiben die Ausführungen an der Oberfläche, Vergleichbarkeit in Aufbau und Inhalt fehlt. Der gute Ansatz verliert sich in der Überheblichkeit, als "Osteuropa-Experte" zu jedem Land etwas Schlaues sagen zu müssen. Was bleibt, sind viele lohnende Denkanregungen und die Hoffnung, dass Hofbauers Ansatz in absehbarer Zeit wissenschaftlich weitergeführt wird.
Christian  Weitzel

Literatur
Bohle, Dorothee 2006: Neoliberal hegemony, transnational capital and the terms of EU enlargement. In: Capital and Class 88. S. 57-86.
Ivanova, Maria 2007: Why there was no "Marshall Plan" for Eastern Europe and why this still maters. In: Journal of Contemporary European Studies 15/3. S. 345-376.
Lord, Christopher und Paul Magnette 2004: E pluribus unum? Creative disagreement about legitimacy in the EU. In: Journal of Common Market Studies 42. S. 183-202.
Lorentowicz, Andzelika, Dalia Marin, Alexander Raubold 2002: Ownership, capital or outsourcing: What drives German investment to Eastern Europe? München.




Antwort vom Autor Hannes Hofbauer auf die Rezension


Obwohl zahlreich besprochen, ist mein im Jahr 2007 in erweiterter Form erschienenes Buch "EU-Osterweiterung. Historische Basis - ökonomische Triebkräfte - soziale Folgen" selten zuvor so profund diskutiert worden wie im obigen Beitrag. Und nie so lehrreich. Als Autor würde man sich eine dermaßen intensive Auseinandersetzung mit seinen Schriften öfter wünschen. Insofern gilt dem Rezensenten mein ehrlicher Dank.
Der Kritik entnehme ich zuoberst, dass mein Anliegen, den überwiegend schönfärberischen Deutungen des osteuropäischen Transformationsprozesses eine radikal anderssichtige, kritische Ansicht gegenüberzustellen, beim Lesenden angekommen ist. Von den ersten sozio-ökonomischen Liberalisierungsschritten seit 1986, als in Ungarn der Direktor des staatlichen Budapester Weltwirtschaftsinstituts Andras Inotai vehement z.B. für die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes eintrat und in der Sowjetunion 1988 das so genannte Genossenschaftsgesetz u.a. das Ende des staatlichen Außenhandelsmonopols fixierte, war mein Erkenntnisinteresse von den sozialen, ökonomischen und kulturellen Auswirkungen dieser "Reformen" auf die Gesellschaften in Osteuropa geleitet. Während die allermeisten Medien, Politiker und Analytiker im Westen die Frage "Cui bono?" mit "unseren Konzernen und Volkswirtschaften" beantworteten und sich damit zufrieden gaben, war gerade diese Antwort für mich Auftrag, mein Augenmerk auf die dadurch erst auftretenden oder sich verstärkenden regionalen Disparitäten und sozialen Verwerfungen zu richten. Während die mainstream-Analyse die "Heimkehr nach Europa" osteuropäischer Länder feierte, fragte ich mich, wohin diese Rückkehr auf historischer Basis stattfinden kann: Faschismus und Nationalsozialismus, autoritäre Regime der Zwischenkriegszeit, periphere Gebiete monarchischer Großreiche?
Schon die Diskrepanz bei der unterschiedlichen Herangehensweise mag erklären, dass die Kritik des Rezensenten, wonach meine Darstellung insgesamt zuspitzt und nicht zu differenzieren vermag, im Kern richtig ist. Mein Arbeitsinstrumentarium ist von journalistischer Machart, wenngleich meine universitäre wirtschaftshistorische Ausbildung unabdingbar für die Beschäftigung mit der Materie war und ist.
Auch die meiner Meinung nach größte inhaltliche Schwäche des Buches hat der Rezensent schonungslos aufgedeckt. Es ist die fehlende Einschätzung der russländischen Beziehungen zu den osteuropäischen EU-Aufnahmekandidaten und späteren EU-Mitgliedern sowie die Einschätzung Moskaus den ganzen Screening-Prozess des "Acquis communautaire" betreffend. Dürftige Quellenlage und eine vollkommen inexistente öffentliche Debatte bis Mitte der 00er-Jahre mögen dafür eine gewisse Entschuldigung sein. Zudem war in der Epoche unter Boris Jelzin bis 1999 die russische Forschung insgesamt gelähmt. Eine viel zu kurze, im Ansatz jedoch diese Fragen stellende Einschätzung ist meinerseits in der Einleitung zu einem anderen Buch (Hannes Hofbauer 2006: Mitten in Europa. Politische Reiseberichte aus Bosnien-Herzegowina, Belarus, der Ukraine, Transnistrien/Moldawien und Albanien. Wien.) erschienen.
Der Vorwurf, die Rezeption der zum Thema vorhandenen Literatur wäre nicht vollständig, kann zum einen immer erhoben werden, ist zum zweiten meiner Ansicht nach ein wenig überzogen (so werden Hobsbawm, Altvater, Bohle sehr wohl rezipiert) und zum dritten insofern korrekt, als dass gewissen Auslassungen auch bewusste Entscheidungen meinerseits zugrunde lagen. Für Letzteres ist zu bemerken, dass der Fokus meiner Arbeit auf ökonomischen und sozialen Fragen lag. Politologische und soziologische Studien ebenso wie solche, die sich mit dem Demokratisierungsprozess in Osteuropa beschäftigten, kamen dadurch zu kurz.
Die reportagenhaft angelegten Länderstudien sollten die harten Fakten der anderen Kapitel unterstreichen und durchaus auch persönlich gewonnene Eindrücke aus der erweiterten Europäischen Union weitergeben. Eine strukturelle Kritik konnte auf diese Weise nicht für jedes Land geleistet werden. Dennoch ist klar, dass bei elf Staaten, die behandelt werden, die Qualität der einzelnen Kapitel unterschiedlich sein muss. Als gescheitert würde ich diese Methode nicht ansehen, waren doch die Länderberichte eher als Ergänzung gedacht.
Auf kein Gehör ist mein Ansatz beim Rezensenten dort getroffen, wo es mir darum gegangen ist, auf die strukturellen Auswirkungen der osteuropäischen Transformation für den westlichen Zentralraum des Kontinents hinzuweisen. Von der weiteren Flexibilisierung und Zerteilung des Arbeitsmarktes über die Ansätze einer steuerpolitischen Abkehr von der Progression hin zur Flat tax bis zu fortschreitenden regionalen Auseinanderentwicklungen sind die durchwegs wirtschaftsliberalen Reformen, die dem Osten in seinen politisch schwächsten Jahren aufgebürdet worden sind, auch in Westeuropa angekommen. Auch diese Diskussion wollte ich anstoßen.
Bleibt mir zu guter letzt, mich der Hoffnung des Rezensenten am Schluss seiner Besprechung anzuschließen. Nämlich, dass der vorgetragene Ansatz, der vollständig außeruniversitär erfolgt ist, "in absehbarer Zeit wissenschaftlich weitergeführt wird". Sollte mein Buch dazu beitragen, dass es für eine derart ausgerichtete Forschung in Zukunft staatliche oder suprastaatliche Gelder geben wird, dann wäre eine der Aufgaben des Buches mehr als erfüllt. Denn kritische Forschung zur Brüsseler Expansionsgeschichte tut Not.
Hannes Hofbauer

Quelle: geographische revue, 12. Jahrgang, 2010, Heft 1, S. 57-63