Neil Stammers: Human Rights and Social Movements. London 2009. 289 S.

Menschenrechte sind seit Jahrzehnten Gegenstand scharfer politischer, aber auch wissenschaftlicher Kontroversen. Zum einen geht es um ihre Reichweite: Zählen nur die unmittelbaren Schutzrechte gegenüber staatlichem Handeln oder allenfalls die bürgerlichen Partizipationsrechte zu den Menschenrechten, oder auch die häufig wegen ihrer mangelnden Justiziabilität kritisierten Menschenrechte der zweiten und dritten Generation, die sozialen und kollektiven Rechte, etwa auf Bildung und Arbeit, aber auch auf Entwicklung oder eine lebensfreundliche Umwelt? Andererseits stehen Menschenrechte vielerorts in dem Verdacht, eurozentrisch und daher ein Instrument des Kulturimperialismus zu sein, das gegen authentische Gebräuche eingesetzt werde.

Neil Stammers geht diese Problematik von einer wichtigen und häufig vernachlässigten Perspektive an: Menschenrechte sind nicht in erster Linie durch Verfassungsgeber dekretiert worden, denen Herrschaftsinteressen füglich zu unterstellen wären; sie sind vielmehr Ergebnis sozialer Kämpfe, "der schöpferischen Praxis" sozialer Bewegungen, ihrer "Handlungsfähigkeit" und damit ihres Potenzials, "Veränderung" zu bewirken (24). Hier sieht Stammers den Schlüssel, der uns aus dem "Spiegelkabinett" (8ff) hinausführen kann, als das er große und entscheidende Teile der bisherigen Debatte über Menschenrechte charakterisiert. Ein wesentliches Defizit erkennt er in der "generellen Abwesenheit der Geschichte" (13), und dementsprechend kann sein Programm auch kurz mit der Historisierung der Menschenrechte im Kontext sozialer Kämpfe zusammengefasst werden. Damit ist auch klar, dass soziale und kollektive Menschenrechte integrale Bestandteile des Gesamtkomplexes sind.
Wenn Stammers dagegen polemisiert, die Geschichte der Menschenrechte erst 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beginnen zu lassen (23), so dürfte dies im Hinblick auf die allgemeine Debatte überzogen sein; überzeugender dagegen ist das Argument, dass das Naturrecht, auf dem die Menschenrechte basieren, nicht allein auf den von C.B. Macpherson so bezeichneten "Besitzindividualismus" zurückgeführt werden kann, sondern auf "soziale Wesen: soziale Personen, die den Ansprüche auf Rechte aufstellten und erhoben, um bestehende Machtverhältnisse und -strukturen in Frage zu stellen" (68). Dem entspricht eine spezifisch radikale Lektüre der französischen, vor allem aber der amerikanischen Revolution, die erst mit der Verfassung von 1787 in ein konservatives Fahrwasser gelenkt worden sei sowie die Berücksichtigung der Revolution in Haiti, die durch die Rebellion der Sklaven die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte in radikaler Form postulierte - wohl ein Grund, warum sie weitgehend dem Vergessen anheim fi el. Wie Stammers betont, ließen die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts - ebenfalls entgegen einem verbreiteten Missverständnis - nicht nach, die Menschenrechte einzufordern. Neben der Betonung des sozialen Inhalts der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen ebenso wie des frühen antikolonialen Widerstandes vor allem in Indien steht hier neben der Betonung expressiver Komponenten sozialer Proteste und des Arbeiter-Internationalismus Stammers' Auseinandersetzung mit dem Postulat des Selbstbestimmungsrechtes. Wie seine historische Rekonstruktion zeigt, muss dieses Recht nicht notwendig national gedacht werden, und wie bereits Eric Hobsbawm und andere gezeigt haben, ist auch die Nation nicht notwendig exklusiv noch ist sie ausschließlich ethnisch definiert.
Das zentrale Problem der sozialen Bewegungen, die Menschenrechte einschließlich sozialer Rechte einklagten und dies weiterhin tun, war und ist aber ihr - wie auch immer begrenzter - Erfolg. Stammers spricht vom "Paradox der Institutionalisierung" (Kap. 4) als dem Punkt, an dem die Bewegung nicht mehr Bewegung ist, sondern sich in Organisationen kristallisiert oder gar bürokratisch einklagbare Rechte erkämpft. Stammers unterscheidet zwischen partikularer Institutionalisierung in spezifischen "rechtlichen und politischen Gemeinschaften" und universaler Institutionalisierung "innerhalb des bestehenden staatszentrierten internationalen Systems" (130). Es überrascht nicht, dass das folgende Kapitel den Neuen Sozialen Bewegungen gewidmet ist, die bei aller Problematik mit Gender, Ethnizität und der Verfügung über Information und Wissen "drei Orte der Macht" (158) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt haben, die nicht nur für die aktuelle Debatte über Macht von entscheidender Bedeutung sind, sondern zuvor auch weitgehend marginalisiert waren. Zugleich wurden so Fragen der "Identität, Differenz und Anerkennung" (159) wesentlich auch für die Auseinandersetzung um Menschenrechte, die Stammers unter dem Gesichtspunkt fortbestehenden "alten Unrechts" auf die "neuen Bewegungen" bezieht (bes. 148ff). Die folgende Differenzierung zwischen den instrumentellen und expressiven Aspekten des "Bewegungs-Aktivismus" (Kap. 5) führt Stammers auf die Diskussion einer "altruistischen, auf 'Andere' zentrierten" Orientierung sozialer Bewegungen, die hier mit Solidarität umschrieben wird (186), ohne freilich die Gefahren des Substitutionalismus gerade im Hinblick auf Reproduktion und Neubegründung von Machtpositionen zu übersehen (bes. 235). Spezifische Solidaritätsbewegungen, etwa die "Dritte Welt-Bewegung", berücksichtigt er dabei aber nicht.
Aus einer kritischen Betrachtung der Auseinandersetzung sozialer Bewegungen mit den gemeinhin als Globalisierung bezeichneten und hier in "Globalisierung von oben" und "Globalisierung von unten" (199) differenzierten Prozessen zieht Stammers vor allem den Schluss, dass die alten konzeptionellen Engführungen hier ebenso präsent sind wie soziale Bewegungen Menschenrechte praktisch einklagen, zumal in der Perspektive einer "Bewegung der Bewegungen". Essentialistischen Kritikern wie etwa Gustavo Esteva bescheinigt Stammers zwar, Probleme benannt zu haben, verweist aber auf ihr "enges und verarmtes Verständnis der Menschenrechte" (205). Demgegenüber plädiert Stammers abschließend für eine von sozialen Bewegungen zu verfolgende aktive und fordernde Menschenrechtspolitik, die auch Rechtsinstrumente, voran die Allgemeine Erklärung nicht liquidatorisch als Herrschaftsinstrumente beiseitelegt oder negiert, sondern sie als "konkrete Universalie" (238) kritisch gegen Herrschaftspraxis wendet (238). Einen Weg aus dem "Paradox der Institutionalisierung" freilich kann Stammers bestenfalls in Umrissen weisen: Die Hoffnung, der Spagat zwischen "der Welt der Institutionen und jener des Alltags" sei eine spezifische Fähigkeit "sozialer Bewegungen und 'ihrer' Organisationen" (247) negiert letztlich die Problematik einer schier unausweichlichen Institutionalisierung und erinnert fatal an eine klassische Formulierung: "Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden" (Marx, These 3 ad Feuerbach). Auch dies wurde oft genug eher als Versprechen denn als Ausdruck eines Dilemmas verstanden.
Dennoch: Stammers hat ein anregendes und aktuelles Buch vorgelegt, das dazu betragen kann, mit wesentlichen, strategischen Missverständnissen über Menschenrechte aufzuräumen. Ihre Historisierung und damit ihre nachdrückliche Einbindung in die Geschichte sozialer Bewegungen und Kämpfe ist allemal ein großes Verdienst, weil sie allzu billigen Kulturrelativismus nachhaltig konterkariert. Zu bedauern bleibt die nachlässige Präsentation: zahlreiche Sekundärzitate, häufige Missachtung der Kongruenzregel. Die Lektüre könnte ohne solche Unarten mehr Spaß machen; lohnend ist sie allemal.
Reinhart Kößler

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 114-115, S. 366-369