Thomas Etzemüller: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2007. 215 S.

Schenkt man der massenmedialen Darstellung der weltweiten Bevölkerungsentwicklung Glauben, ist Bevölkerung ein Problem. Es leben je nach Standpunkt entweder zu viele Menschen auf der Welt, vornehmlich in den Staaten des Südens, oder zu wenige Menschen, vornehmlich in den Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre. Auch der deutsche Staatsbürger1 ist solchen Darstellungen zufolge vom Aussterben bedroht. Frauen in Deutschland bekommen zu wenige Kinder. Der Untergang, erst des Sozialstaates und anschließend der Bevölkerung, ist daher vorhersagbar. Interessant an diesem Szenario ist nicht sein unerfreuliches Ergebnis, sondern die einfache Tatsache, dass praktisch mit Beginn der Moderne der Bevölkerung in Mitteleuropa ihr Untergang prophezeit wurde.

Die Mitteleuropäer sterben seit über 200 Jahren aus, ohne dass eine zarte Hoffnung am Horizont der Zeitgeschichte sichtbar würde - nur der genaue Zeitpunkt ihres Verschwindens bleibt vage.
Der Oldenburger Historiker Thomas Etzemüller geht in seiner Monographie dieser skurril anmutenden demographischen Futurologie auf ihren diskursiven Grund. Etzemüllers Untersuchungsinteresse ist die Frage, wie die demographische Entwicklung als "Problem" gesellschaftlich definiert und damit gleichzeitig erzeugt wird. Die demographische Entwicklung als Problem ist nicht einfach "da" und unabhängig von einer Beobachterperspektive gegeben, sondern wird erst performativ hergestellt. Etzemüller nimmt hierzu die Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung ein und fragt nach den Mechanismen, die in anscheinend turnusmäßigen 50jährigen Abständen verschiedene Untergangsszenarien entwerfen.
Bevölkerung als Problem ist ein genuin modernes Phänomen. Die stratifizierten europäischen Gesellschaften des Mittelalters und der Neuzeit kannten Bevölkerung nur rudimentär als eine Ressource für das Militär oder als Arbeitskräfte. Die Beobachtung einer problematischen Bevölkerungsentwicklung ist eng an die Dynamisierung der Gesellschaft mit Beginn der Industrialisierung gekoppelt, die die Komplexität der Gesellschaft steigerte und diese damit für die Bevölkerungssemantik sensibilisierte. Als einen besonders irisierenden Apologeten des modernen Niedergangs stellt Etzemüller den Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer vor, der 1932 und 1934 seine Schriften "Volk ohne Jugend" und "Sterben die weißen Völker?" publizierte und darin der "weißen Rasse" ihre Niederlage im "Gebärwettlauf" mit den Farbigen prophezeite. Burgdörfer war von 1933 bis 1945 Leiter des Bayerischen Statistischen Landesamts und lehrte ab 1950 wieder als renommierter Bevölkerungswissenschaftler. Burgdörfer ist ein ideologisch extremes Exempel. Dennoch gelingt es Etzemüller, die Dauerhaftigkeit und Motivation des Aussterbenstopos an diesem Beispiel zu verdeutlichen. Als eines seiner wichtigsten ideologischen Schmiermittel fungiert dabei die Xenophobie.
Etzemüllers Schrift ist für Sozial- und besonders für Bevölkerungsgeographen von großem Interesse, da er die Rolle des Raumes im Einklang mit dem spatial turn in der Geschichtswissenschaft in seiner historischen Analyse stark macht. Der Raum ist für den Oldenburger Historiker ein elementarer Bestandteil des Bevölkerungsdiskurses. Die Bevölkerung kann überhaupt erst zum "Problem" werden, wenn sie in Räumen gedacht wird. Fertilität und Mortalität müssen auf Containerräume und/oder soziale Räume projiziert werden, will man Problemlagen schaffen. Der Raum gilt anschließend als natürliche Einheit, ganz im Sinne des Paradigmas der klassischen Geographie, und wird mit Grenzen artifiziell gerahmt. Für Etzemüller ist diese kontingente Ausgangssituation von Grenze und Raum die Grundlage aller Bevölkerungsdiskurse vom Anfang bis zum Ende. Etzemüller skizziert in diesem Zusammenhang die Nation als bedeutsamste räumliche Semantik, die den ihr zugewiesenen Raum, ihr Territorium, mit Bevölkerung füllen muss. Es ist hochinteressant zu lesen, wie einfach dieses Modell erweiterbar und z.B. auf "Orient/Okzident" oder "Weiße/Schwarze" anwendbar ist. Eine genuine Stärke des Buches ist die Offenlegung der Matrix dieses Bevölkerungsdiskurses. Er verbindet nicht nur Raum, Territorium und Bevölkerung, sondern spezifische biologische Abstammung mit sozialer Zugehörigkeit. Das Konstrukt des Bevölkerungsbegriffes erlaubt, so Etzemüller, diese Einbindung der Biologie in das Soziale und er verankert somit deterministisches Gedankengut. So war die soziale Klasse letztlich ein Resultat der Gene und die sozial differenzierte Fertilität war geboren - die Annahme, dass für unterschiedliche Sozialschichten eine hinreichend hohe oder niedrige Fruchtbarkeit wünschenswert ist. Bevölkerung ist damit dem Zugriff der Foucaultschen "Bio-Politik" ausgesetzt und bedarf der Regulation. Gerade an dieser Stelle erscheint Etzemüllers Beitrag anschlussfähig an die vor allem in der Neuen Kulturgeographie geleisteten Arbeiten zur Gouvernementalität. Er liefert aufschlussreiches Material für das kulturgeographische Nachdenken über den Zusammenhang von Regulation, Macht, Raum und Bevölkerung.
Neben dem Regulationsgedanken führt Etzemüller eine zweite These an, die stärker an Arbeiten zum pictorial oder visual turn in der Kulturgeographie anschließen. Etzemüller sieht in der Technik der Visualisierung von Bevölkerung in Statistiken, Diagrammen usw. ein entscheidendes Argument auf dem Weg zur Bevölkerung als Problem. Die Geschichte des Bevölkerungsdiskurses ist genauso eine Geschichte des Sehens. "Genau das sollte später die Durchschlagskraft des Bevölkerungsdiskurses ausmachen: Verborgenes gewann in Statistiken Existenz und wurde in einer spezifischen Form sichtbar; das wiederum präformierte Handlungsoptionen" (S. 23). Und das unschlagbare Erfolgsmodell der Demographie ist das Triptychon der Pyramide, Glocke und Urne, das in dem einen oder anderen Lehrbuch zur Bevölkerungsgeographie ebenfalls zu finden sein dürfte. Mit dieser Form der Visualisierung konnte endlich jeder die Gefahr sehen. "Völkertode" in der Vergangenheit wurden auf simple Weise erklärbar, die Zukunft umso leichter prognostizierbar. "Die Pyramide ist zum zeitlosen Paradigma eines gesunden Bevölkerungsaufbaus geworden, die Urne zu ihrem Fanal" (S. 86). Der Oldenburger Geschichtswissenschaftler kann auf diese Weise eindrucksvoll die Performativität dieses Triptychons aufzeigen. Dessen normierte Symbole haben einen hohen Wiedererkennungswert und ihre Iterabilität sorgt für die Herstellung der Katastrophe, die ohne diese graphische Aufbereitung nicht sichtbar wäre und folglich nicht existieren würde.
Bei Etzemüller reduziert sich das Geschäft mit der Bevölkerungsprognose zur Form: Der Untergang liegt immer in der Zukunft. Die Szenarien deuten immer auf das Kommende. Momentan ist die Situation noch gesichert, aber die Zahlen weisen auf den Untergang, der unabwendbar kommt, wenn die Zahlen sich nicht verändern. Lesenswert ist vor allem die amüsante Darstellung, wie heute über Geburtenkontrolle und Verhütung im Süden dieselben Mittel die Welt retten sollen, die noch knapp hundert Jahre vorher nach der gängigen Meinung zum sicheren Untergang geführt hätten. Etzemüller zieht daraus die ironische Erkenntnis, dass das wahre Problem jeder Demographie schon immer die Frau war. Die Frau ist die Trope der Bevölkerungswissenschaft. "Bekommen sie in Europa zu wenig Kinder, weil sie falschen Idealen der Selbstverwirklichung folgen, statt sich auf die traditionelle Mutterrolle zu besinnen, so bekommen sie in den Entwicklungsländern zu viele Kinder, weil sie in Traditionen verhaftet sind, statt sich zu emanzipieren" (S. 136).
Am Ende der lohnenden Lektüre des Essays steht die Erkenntnis, dass die grundlegenden Begriffe des Diskurses in der Demographie nicht analytischer, sondern normativer Natur sind. Auch Bevölkerung selbst ist für den Oldenburger Historiker ein normatives Konstrukt, das performativ hergestellt wird und kein analytischer, theoretisch kontrollierter oder nur kontrollierbarer Begriff. Das Werk besticht durch die Klarheit der Darstellung und die umfangreichen Abbildungen, die dem Leser das diskursiv erzeugte Problem der Bevölkerungsentwicklung vor Augen führen. Nicht nur Bevölkerungsgeographen werden die Lektüre lohnend finden. Generell eignet sich die mit reichhaltigem empirischem Material versehene Arbeit für sozial- wie kulturgeographisches Nachdenken über performative Konstruktionsmodi. Der Band ist mit seiner klaren Sprache und stringenten Gliederung ebenfalls für sozial- und/oder bevölkerungsgeographische Lehrveranstaltungen geeignet.
Peter Dirksmeier

Anmerkungen
1     Die Rezension stellt der Kürze und Lesbarkeit wegen nur die männliche Form im Text dar. Dies weist darüber hinaus kein anderes Motiv auf.

Quelle: geographische revue, 12. Jahrgang, 2010, Heft 1, S. 64-66