Kerstin Dörhöfer: Shopping Malls und neue Einkaufszentren. Urbaner Wandel in Berlin. Berlin 2008. 189 S.
Spätestens seit dem Heft 114/115 der Zeitschrift Arch+ von 1992 sind Shopping Malls Gegenstand auch der deutschsprachigen Stadtsoziologie, Geographie, Planungswissenschaften oder auch der Architekturwissenschaften und der Urbanistik, zu der auch die Studie von Kerstin Dörhöfer zu rechnen ist. Betrachtet man diese Zeit, so lassen sich grob drei Phasen der Thematisierung erkennen.
Anfang der 90er Jahre orientierten sich die Texte an US-amerikanischen Malls, sie waren deskriptiv und gelegentlich feuilletonistisch ausgerichtet und hatten fast immer einen kritischen Impetus: von Verfall des öffentlichen Raums war die Rede, von Manipulation und Kontrolle sowie von Langeweile, die den Städten drohe. So überschrieb auch Dörhöfer 1998 einen Aufsatz treffend mit "Wer eine kennt, kennt alle". Zu diesen anfänglichen Beschreibungen kamen Ansätze, die sich v.a. dadurch auszeichneten, dass sie versuchten, sich gegen die Kritik zu positionieren: Der Vorwurf war eine überzogene Konsum- und Kulturkritik. Es wurde dementgegen gefragt, ob Shopping Center, so der Terminus technicus, vielleicht die besseren öffentlichen Räume seien.
Beiden Richtungen oder Phasen gemein war, dass sie wenig auf empirische Studien zurückgriffen, weil diese insbesondere zu deutschen Städten fehlten. Dies hat sich inzwischen deutlich gewandelt, und so reiht sich Dörhöfers Studie zu Berlin ein in eine Vielzahl von Untersuchungen.1 Auffällig bei diesen neuen Studien - inkl. der hier besprochenen - ist, dass sie viele Differenzierungen vorlegen, gleichwohl aber der kritische Impetus, der anfänglich noch auf unbegründeten Verallgemeinerungen oder der selektiven Betrachtung einzelner Aspekte beruhte, wieder auftaucht bzw. beibehalten wird. Überspitzt formuliert: was anfänglich mehr oder weniger plausibel spekuliert wurde, ist nun belegt - wenn auch differenzierter.
Die Berliner Urbanistin Kerstin Dörhöfer, sonst auch aus einer genderorientierten Stadtforschung bekannt, gehört wohl zu den besten KennerInnen der Materie. Sie stellt sich in ihrem Buch vor allem zwei Fragen: Welche Auswirkungen haben Malls auf die räumliche und bauliche Entwicklung europäischer Städte (resp. auf Berlin) und wie wirken sie auf das, was mit Blick auf Walter Siebel oder Jane Jacobs unter Urbanität oder urbaner Kultur verstanden werden kann? (S. 14 ff.) (Nicht erst am Ende des Buches wünscht man sich im Übrigen, mehr StadtplanerInnen und KommunalpolitikerInnen hätten den hier viel zitierten Klassiker "Tod und Leben grosser amerikanischer Städte" von Jane Jacobs (dt. 1963) gelesen.) Mit diesen übergeordneten Fragestellungen gliedert sich das Buch in drei Abschnitte. Der erste umfasst eine theoretische Einführung mit einem speziellen Fokus auf Berlin inklusive der Geschichte des Bautyps Shopping Mall und räumt dabei unter anderem mit der oft vertretenen These auf, die Passagen des 19. Jahrhunderts seien mit den spätmodernen Malls gleichsetzbar (S. 9-61). Es folgt die eigentliche empirische Studie von zehn verschiedenen Berliner Malls und Einkaufszentren sowie schliesslich die Zusammenfassung und Interpretation und die auch stadtsoziologisch interessante Einordnung der Ergebnisse in theoretische Überlegungen (S. 150-176). Ergänzt werden diese drei Abschnitte durch einen sehr informativen Anhang, der detailliert die Lage und Verbreitung von Malls in Berlin darstellt. Insbesondere Anfang und Schluss des Buches bilden einen sehr gut lesbaren und anschaulichen Ein- und Überblick über das, was Shopping Malls ausmacht. Ohne unnötig abstrakte Formulierungen oder reisserischen Populismus wird man auf den Stand der Diskussion gebracht, der durch die empirischen Befunde und Fallstudien Dörhöfers untermauert und bereichert wird.
Der empirische Teil arbeitet sich an der impliziten Frage ab, ob denn die eigene These "Wer eine kennt, kennt alle" immer noch aufrecht erhalten werden kann. Allein dies ist schon erwähnenswert, ist es doch selten die Stärke von WissenschaftlerInnen, eigene Thesen zu hinterfragen. Die Antwort bei Dörhöfer lautet an mehreren Stellen: nein. Diese neue Interpretation ist m.E. jedoch zu progressiv. Zwar belegt die Studie von zehn Malls und Einkaufszentren, dass diese sehr wohl von ihrer baulichen Einbindung in die sie umgebenden Quartiere, von der soziokulturellen Zusammensetzung der BesucherInnen (wobei das grosse I eher ein kleines sein müsste, sind doch die Anwesenden überwiegend weiblich) und auch von ihrer Funktionalität her unterschiedlich sind, aber vieles ist eben auch bei allen Malls gleich. Oder aber, die dokumentierten Unterschiede beruhen darauf, dass die Autorin eben nicht nur Shopping Malls im engen Sinn der Definition des EuroHandelsInstituts oder des International Council of Shopping Centers berücksichtigt hat, sondern auch bedingt "im Zeitablauf gewachsene" Einkaufszentren oder, wie z. B. die Kaiser-Wilhelm-Passage, Zentren, die nicht die sonst übliche Mindestgrösse von 10 000 m² erreichen. Heterogenität vs. Homogenität etwa wäre also ebenso eine Frage der Ausgangsdefinition. "Gewachsen" ist hier allerdings eine vage Formulierung: manche Malls sind in ehemaligen Geschäftszentren gelegen, die revitalisiert werden sollten, manche haben unterschiedliche Bauphasen oder unterschiedliche Architekten. Die Antwort müsste daher eigentlich "jein" lauten, wie es auch auf Seite 150 durchscheint, denn es ist immer eine Frage der Perspektive und der jeweils interessierenden Frage.
Für ihre Fragestellung unterscheidet Dörhöfer im Ergebnis vier Kategorien von Malls oder Einkaufszentren:in der Nähe von altstädtischen Strukturen gelegene, jene in monofunktionalen Grosssiedlungen, solche an Verkehrsringen und in funktional gemischten Quartieren sowie an zentralen, innerstädtischen Standorten. Begrenzt positiv - etwa hinsichtlich der Auswirkung auf den übrigen Einzelhandel, die Integration in die Quartiere oder auch hinsichtlich "Urbanität" - fällt das Urteil nur für die neuen Malls in monofunktionalen Grosssiedlungen aus. Diese müssen aber auch fast zwangsläufig angesichts der oft trostlosen Ausgangssituation eine Verbesserung darstellen. Für alle anderen Shopping Malls wird hingegen die Zerstörung des Einzelhandels und identitätsstiftender Orte, Tendenzen zur Homogenisierung und Beliebigkeit oder auch eine mangelhafte bauliche Integration betont.
Bei den unter anderem auf "Wahrnehmungsspaziergängen " (S. 63 f.) beruhenden Beschreibungen zeigt sich, dass Dörhöfer eine gute Beobachterin ist und aussagekräftige Daten nicht zwangsläufig auf "harter, quantitativer" Empirie beruhen müssen, wenngleich man sich manchmal fragt, woher exakte Zahlangaben etwa zur Zusammensetzung der BesucherInnen stammen - der dafür eigentlich nötige hohe methodische Aufwand wird zumindest nicht dokumentiert. Als spannend erweist es sich auch, dass die Geschichte der Quartiere und mithin der Mallstandorte dargestellt wird. Die Beschreibung der einzelnen Malls und Einkaufszentren liest sich allerdings etwas mühselig. Die zehn Fallstudien liefern reichhaltig bebildert eine Fülle von Details zu Architekturbüros, Wegesystemen, Gestaltungsmerkmalen, Nutzung, sozialer Zusammensetzung, Bauherrn etc. pp., aus denen für weiterführende Interpretationen auch unter anderen Fragestellungen viel gewonnen werden kann. Lesefreundlicher wäre aber eine inhaltliche Gliederung gewesen, wie sie am Ende bei der zusammenfassenden Interpretation vorgenommen wird: etwa nach Standorten, anhand derer Gemeinsamkeiten und Unterschiede dargelegt werden. Damit wären einem Wiederholungen, die zur Beschreibung der einzelnen Malls jeweils nötig sind, erspart geblieben, zwangsläufig aber auch Detailinformationen verloren gegangen.
Insgesamt ist es ein Buch, das die Diskussion bereichert und das vor der Ansiedlung neuer Shopping Malls von kommunalen EntscheidungsträgerInnen gelesen werden sollte, aber auch für Studierende verschiedener Fachrichtungen und für interessierte Laien Erkenntnisgewinn verspricht. Im Interesse der europäischen Stadt wünscht man dem Buch eine weite Verbreitung.
Anmerkungen
1 Erwähnt seien nur die Beiträge in dem Sammelband Shopping Malls - Interdisziplinäre Betrachtungen eines neuen Raumtyps (Wehrheim 2007), inklusive eines weiteren Aufsatzes von Kerstin Dörhöfer.
Literatur
Wehrheim, J. (Hg.) 2007: Shopping Malls - Interdisziplinäre Betrachtungen eines neuen Raumtyps. Wiesbaden.
Jan Wehrheim
Quelle: disP 174, 3/2008, S. 86-87
weitere Besprechung des Buches unter:
http://www.raumnachrichten.de/ressource/buecher/903-shopping-malls