Elisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.): Dubai. Stadt aus dem Nichts. Ein Zwischenbericht über die derzeit größte Baustelle der Welt. Basel 2009 (Bauwelt Fundamente 143). 231 S.
Die Architekten Elisabeth Blum und Peter Neitzke bieten in ihrem Sammelband eine Rundreise durch die "Welt der städtebaulichen Superlative" und sozialen Gegensätze am Persischen Golf an. Zwischen der Vogelperspektive auf die palmen- und weltkartenförmigen Inselaufschüttungen vor der Küste Dubais und der Nahaufnahme in die Baustellen und Wohncamps der Arbeiter vor Ort bietet das Werk ein breites Spektrum unterschiedlichster Einblicke in das Leben in Dubai und lässt dabei zahlreiche Experten der Architektur, der Volkswirtschaftslehre, des Städtebaus, der Geographie und des Rechtswesens zu Wort kommen.
Der Sammelband gibt einen Überblick über Geschichte, Wirtschaft, Politik, Architektur, Städtebau, Arbeiten und Leben in Dubai und zeichnet sich insbesondere durch die Wahl unterschiedlicher Stilformen des insgesamt 17 Beiträge umfassenden Werkes aus: Neben klassischen wissenschaftlichen Analysen sind auch Beiträge in Form von Interviews, Berichten und Lageeinschätzungen zu lesen. Die Beiträge sind zwar thematisch in sieben Abschnitte (- Auf Sand gebaut? - Geschichte, Verfassung - Dubai Corporation - Transit Hotel Dubai - Das Dubai-Experiment - Die unsichtbare Stadt - Mythen und Blasen) gegliedert, die jedoch inhaltlich nicht eindeutig trennscharf sind.
Nach einer Einführung durch Keller Easterling in die jüngere Geschichte der Vereinigten Arabischen Emirate mit besonderem Blick auf Dubai (S. 18ff.) folgt ein Einblick in die städtebauliche "Gigantomanie" Dubais mit einer Darstellung urbaner Standortwettbewerbe zwischen Dubai und seinen Nachbaremiraten (Nadine Scharfenort, S. 31ff.). Der Aufstieg Dubais zur Wirtschaftsmetropole (Heiko Schmid, S. 56ff.) und die starke Rolle Dubais innerhalb der Kompetenzverteilung der Vereinigten Arabischen Emirate stehen im Mittelpunkt des folgenden Abschnittes (Naseef Naeem, S. 74ff.).
Der Analyse von Regierungshandeln in Dubai mit dem Ergebnis einer unternehmensorientierten Stadt- und Wirtschaftspolitik sind die nächsten drei Beiträge von Heiko Schmid gewidmet (S. 84ff.): Der einem global agierenden Wirtschaftsunternehmen gleichende Führungsstil staatlicher Akteure, die treibenden Kräfte hinter dem wirtschaftspolitischen Erfolg Dubais als Kooperationen aus staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren und die Visionen der einflussreichen Akteure von der "Global City Dubai" werden dargestellt (S. 94ff.). Auf diese Weise wird eindrucksvoll die von wirtschaftlichen Überlegungen bestimmte Stadtpolitik dokumentiert, in der prestigeträchtige Einzelprojekte erst nachträglich in eine übergeordnete staatliche Planung integriert werden (S. 104ff.).
Dabei bleibt offen, welchen städtebaulichen Leitbildern die Entwicklung in Dubai eigentlich zugeschrieben werden kann. Welche Art von Urbanität wird entwickelt? Und wie werden öffentliche Räume in einer von spekulativen Zielen dominierten Stadt geschaffen? Welchem Verständnis von Öffentlichkeit sollten diese Räume in einer Stadt entsprechen, in der mehr als 90 % der Bevölkerung Ausländer mit größtenteils zeitlich begrenztem Aufenthaltsrecht, also moderne Nomaden der Globalisierung sind? Diese und weitere Aspekte werden im Gespräch mit Michael Schindhelm, dem Direktor der "Dubai Culture and Arts Authority" diskutiert (S. 114ff.), bevor im Weiteren die spannende Frage gestellt wird: "In What Style Should Dubai Build" (Kevin Mitchell, S. 130ff.)? In einer Stadt, in der sich die dynamischen Veränderungen infolge des ökonomischen Wachstums am sichtbarsten in der gebauten Umwelt ausdrücken, wird die Relevanz der Identität vor dem Hintergrund des sich verändernden Stadtbildes thematisiert. Auf der Suche nach einem lokalspezifischen Architekturstil wird diskutiert, in welchem Verhältnis die Bewahrung einer traditionellen Architektursprache zu der Expansion einer modernen, von den Symbolen der Globalisierung getragenen Architektur stehen soll. Die sich anschließenden Beobachtungen von Jost Kreussler, Design Manager und Senior Architekt Dubai Waterfront-Palm Jebel-Ali, spiegeln die zuvor analysierten lokalen Eigenarten aus der Sicht eines in Dubai praktizierenden Architekten wider und schildern anschaulich die Arbeits- und Erfolgsbedingungen eines europäischen Architekten vor Ort (S. 141ff.).
Die Kennzeichen des "beschleunigten Urbanismus" in Dubai stehen im Fokus des nächsten Beitrages von George Katodrytis, in dem das "Dubai-Experiment" untersucht wird (S. 150ff.) und die künstlich aufgeschütteten Palmeninseln mit ihren monotonen Villenkolonien der Luxusklasse als "Hydro-Suburbia" umschrieben werden (S. 151). Die Architekten Dominic Wanders und Hannes Werner hinterfragen kritisch, wann aus den vielen Häusern in Dubai endlich Stadt und aus den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Stadtgesellschaft wird (S. 157ff.)?
Es wird abzuwarten sein, was bleibt, wenn die Gebäude stehen und die Arbeiter nach Hause gehen. Nadine Scharfenort zufolge besteht die Gefahr, dass infolge der umfangreichen Stadterweiterungen mit ihren Großprojekten nur noch wenige ursprüngliche Stadtkerne mit authentischem Flair vorhanden sind (S. 182ff.). Susan Thieme beleuchtet den Aspekt, dass die aus dem Ausland rekrutierten Bauarbeiter Dubais, die saisonal schwankend zwischen 60-70 % der Bevölkerung ausmachen, auf den Großbaustellen der Golfregion neue Arbeitsorte suchen müssen (S. 188ff.), um die für ihre Familien in ihren Heimatländern existenziell notwendigen Rimessen aufrecht erhalten zu können. Sie sind das "Fußvolk der Globalisierung" (S. 208), das für seine Familien weite Reisen auf sich nimmt, um unter nach westeuropäischen Maßstäben schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen Geld für ihre Familien zu verdienen (Rainer Hermann, S. 205ff.).
Die Finanzmarktkrise hat die Immobilienblase nach Einschätzung von Wolfgang Lipps nicht platzen lassen, sondern einen Druckabfall in verschiedenen Segmenten des Immobilienmarktes bewirkt (S. 212ff.). Unter dem anhaltenden Einfluss der globalen Wirtschaftskrise werden sich die "Krankheitsmerkmale" des Patienten Dubais jedoch wohl langfristig bemerkbar machen (S. 224). Abschießend weist Lucia Tozzi darauf hin, dass schon heute die Wohnungen und Villen mit bester Aussicht unbewohnt sind und Dubai der Inbegriff des spekulativen Immobilienhandels in reinster Gestalt ist. Man könnte sich fragen, ob das bereits der "Anfang vom Ende" ist (S. 226f.)?
Die Lektüre des Zwischenberichts über die derzeit größte Baustelle der Welt verspricht anregende Einblicke in die Welt der städtebaulichen Experimente und Großprojekte, vernachlässigt aber gleichzeitig nicht den kritischen Blick auf deren soziale, ökologische und ökonomische Schattenseiten. Die Abwechslung der Schreibstile hält das Werk insgesamt sehr lebendig und trägt mit der thematischen Breite zu einem vielfältigen Eindruck über die "Stadt aus dem Nichts" bei. Die geschichtliche Beschreibung des Aufstiegs der Stadt zur Wirtschaftsmetropole in Verbindung mit der Analyse aktueller Stadtentwicklungsprozesse ermöglicht dem ortsunkundigen Leser einen guten Einstieg in die lokalen gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Aus der eigenen Sozialisation europäischer Stadtgeschichte heraus erstaunt die scheinbar fehlende Mitgestaltung an aktuellen Prozessen der Stadtentwicklung durch die Bewohner Dubais, so dass sich nicht nur hinsichtlich der Gestaltung und Nutzung von öffentlichen Räumen, sondern auch bezüglich einer Öffentlichkeit im Sinne von Partizipation und Mitsprache die Frage nach dem Wesen der aktuellen und zukünftigen Stadtgesellschaft stellt. Die Dominanz neoliberaler Stadtpolitik, die beschriebenen Superlativen der Immobilienprojekte, die funktionale Trennung der Bauvorhaben im Stadtgebiet, die Spannung zwischen Tradition und Moderne im Stadtbild und die Monotonie neuartiger "hydro-suburbaner" Wohngebiete werfen Fragen der Lebensqualität der Stadt für ihre Bewohner sowie der Langlebigkeit und Nachhaltigkeit im Städtebau auf, die im Sammelband zwar angesprochen, aber nicht weiter vertieft werden.
Aus geographischer Sicht hätte durchaus großzügiger mit Karten, Tabellen und Abbildungen zur Illustration von im Text genannten Beispielen gearbeitet werden können. Eine Vielzahl von Fotos hilft jedoch zumindest einen visuellen Eindruck von der städtebaulichen Situation in Dubai zu erhalten. Die Beiträge der interdisziplinären Autorenschaft sind empfehlenswert für eine vielfältige Leserschaft aus Wissenschaft und Praxis. Die im Buch aufgeworfenen Positionen zur städtebaulichen, kulturellen und sozioökonomischen Entwicklung Dubais können als Anregungen für Debatten über Stadt und Stadtgesellschaft auch in anderen räumlichen Kontexten gelesen werden.
Katharina Hackenberg