Aurel Schmidt: Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte. Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2011. 384 S.
1 Konzeption, Zielsetzung, Gliederung und zentrale Thesen des Buches
Der Basler Journalist Aurel Schmidt (Jahrgang 1935) beschäftigt sich seit Ende der 1980er Jahre mit den Alpen und publizierte bereits im Jahr 1990 ein erstes Buch dazu: "Die Alpen - schleichende Zerstörung eines Mythos" (Benziger, Zürich), dessen Titel sich auch für sein neues Buch geeignet hätte.
Dabei geht er von zwei inhaltlichen Strängen aus, die zwar eng miteinander verflochten sind, die jedoch etwas unterschiedliche Akzente und Zielsetzungen aufweisen.
1. Die Alpen besitzen eigentlich eine "originäre Eigenschaft als Sinn- und Bedeutungsstifter" (S. 22); heute allerdings "lösen die Alpen kein inneres Staunen oder Gefühl der Ergriffenheit mehr aus, sondern haben die Bedeutung und Funktion eines praktischen Objekts, eines Geräts, einer Ressource angenommen" (S. 343), oder in Kurzform: "Der Weg hat vom Tempel zur Boutique geführt, was eine ,Verfallsgeschichte´ darstellt" (S. 344, im Original kursiv).
2. Die besondere Geschichte der Schweiz ist von den Alpen geprägt ("Die Freiheit in den abgeschiedenen Tälern und auf den Höhen war kein leeres Wort", S. 23), wozu eine "irritierende Zwiespältigkeit der Schweiz gehört, die immer zwischen Öffnung und Rückzug, zwischen Hochalpen und Flachland, zwischen Weltoffenheit und Selbsteinschließung geschwankt hat" (S. 29).
Diese beiden unterschiedlichen Stränge werden dadurch zusammengehalten, dass "die klassische Zeit der Alpenbegeisterung zwischen 1750 und 1800 liegt" (S. 26) und dass in dieser Zeit "die Alpen" mit den Schweizer Alpen (genauer: nur mit den Regionen Vierwaldstättersee und Gotthard, Berner Oberland, Teile des Wallis = Präzisierung des Rezensenten) identisch waren - lediglich Chamonix und der Mont Blanc lagen damals als frühe Alpenziele außerhalb der Schweiz. Und in der gleichen Epoche war die Schweiz "ein in Europa von Königen und Fürsten gefürchtetes revolutionäres Land" (S. 29). Diese zeitliche Parallelität steht im Zentrum dieses Buches, und diese Epoche stellt auch den inhaltlichen Dreh- und Angelpunkt der Darstellung dar, der zu einer direkten inhaltlichen Verknüpfung der beiden Themenbereiche führt: "Zwischen der Entdeckung, Eroberung und Erschließung der Alpen im Spiegel alter Schriften und der Formation der politischen und demokratischen Schweiz gibt es erstaunliche Parallelen" (S. 27).
Dieser Ansatz prägt auch die räumliche Abgrenzung "der Alpen", die in diesem Buch mit den Schweizer Alpen identifiziert werden, wobei "der Einbezug Savoyens und des Mont-Blanc-Massivs keine Annexionsgelüste verfolgt, sondern sich aus thematisch und literarisch nahe liegenden Gründen angeboten hat" (S. 27).
Zur Umsetzung: Im Zentrum dieses Buches stehen ausführliche Zitate und längere Paraphrasen aus Reise- und anderen Berichten über die Alpen aus der klassischen Zeit der Alpenbegeisterung, die immer wieder durch Texte aus früheren Zeiten und solche, die bis ins 19. und 20. Jahrhundert reichen, ergänzt werden, und die durch zahlreiche historische Abbildungen (meist Stiche, viele Reproduktionen von Titelseiten damaliger Alpenberichte) begleitet werden. Durch diese literarisch-journalistische Form der Darstellung entsteht ein anschauliches und konkretes Bild der Alpen.
Die Gliederung des Buches ist dadurch geprägt, dass die beiden inhaltlichen Stränge nicht getrennt voneinander, sondern ineinander verschränkt dargestellt werden. Die sieben Kapitel sind grundsätzlich als geschichtlicher Fortgang konzipiert (Kapitel 4: 18. Jahrhundert, Kapitel 5: 19. Jahrhundert, Kapitel 6: Alpen 2010), aber dies wird nicht stringent durchgehalten, sondern die Darstellung thematisiert in den einzelnen Kapiteln immer wieder auch die Aussagen früherer und späterer Epochen.
Am Schluss des Buches kommt Aurel Schmidt auf die Zukunft der Alpen zu sprechen, was in "Zehn Thesen über die Zukunft der Alpen" (S. 354-355) mündet. Hier geht es wieder um die beiden inhaltlichen Stränge:
1. Gegen die Entwertung der Alpen zu einem reinen Kommerz- und Konsumprodukt fordert der Autor erstens raumordnerische Maßnahmen (die für Leser, die die aktuelle Schweizer Diskussion um Bauzonen, Zersiedlung, Zweitwohnungen nicht kennen, nur schwer nachzuvollziehen ist, da diese Diskussionen als bekannt vorausgesetzt werden), zweitens eine grundsätzliche Redimensionierung von neuen Projekten - "Projekte müssen redimensioniert, striktere Umweltbedingungen eingehalten und überrissene (also ökonomisch meistens unrealisierbare) Vorhaben aufgegeben werden" (S. 345) - und drittens eine Stärkung der regionalen Wirtschaft in nachhaltigen Formen (am Beispiel des Val Lumnezia entwickelt, S. 347).
2. Bei der Darstellung der Schweizer Geschichte legt Aurel Schmidt das Gewicht auf ihre Offenheit ("Die Schweiz war seit jeher ein Durchgangsland", führende Vertreter der klassischen Alpenbegeisterung wie Albrecht Haller gehörten zur europäischen Aufklärung, und Zürich war als "Limmat-Athen" damals "ein Treffpunkt der gelehrten Welt", S. 28) und auf ihre republikanisch-revolutionären Elemente. "Dieser Rückblick in die Geschichte, der mit einem Blick auf die Alpen identisch ist, würde helfen, eine distinkte Schweiz neu zu entdecken" (S. 23). Diese Neuentdeckung ist dringend erforderlich, weil "die Schweiz gegenwärtig den Eindruck einer Desorientierung macht" (S. 23) und "die sogenannte Igelmentalität das Denken vieler Schweizer eingeengt hat und einengt - häufig zu deren Nachteil" (S. 28). Dem Autor geht es mit diesen Aussagen darum, in der gegenwärtigen, sehr kontrovers geführten Diskussion um die Schweizer Identität in einem neuen Europa und in einer neuen Weltordnung explizit Position gegen das verbreitete rechtspopulistische Denken ("Reduit-Ideologie") zu beziehen, das v.a. vom Politiker Christoph Blocher propagiert wird. Allerdings sind seine Aussagen für diejenigen Leser, die die aktuelle Schweizer Diskussion nicht kennen, nicht leicht nachzuvollziehen, da er sie als bekannt voraussetzt und nicht explizit erläutert.
Die Zielsetzungen dieser beiden inhaltlichen Stränge werden am Schluss folgendermaßen zusammengebunden: "Es ist ein prometheischer Kampf angesichts der ökonomischen Interessen, die involviert sind. Aber es ist auch ein neuer, moderner republikanischer Imperativ" (S. 354, kursiv im Original): Der Kampf gegen die totale Entwertung der Alpen als reines Konsumprodukt und der Kampf gegen die Reduit-Ideologie gehören für ihn untrennbar zusammen, weil die Alpen sowohl Symbol der Schönheit als auch zugleich Symbol der Freiheit sind.
Auf diese Weise schlägt Aurel Schmidt in seinem Alpen-Buch einen sehr breit angelegten inhaltlichen Bogen, der zahlreiche Aspekte des Alpendiskurses miteinander verknüpft.
2 Zur Bewertung dieses Buches
Die Grundsatzfrage besteht darin, ob es angemessen ist, ein journalistisches Buch in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu besprechen und es am aktuellen Forschungsstand und mittels wissenschaftlicher Kriterien zu bewerten. Der Rezensent ist der Meinung, dass dies sinnvoll ist, weil journalistische Texte viel leichter als fachwissenschaftliche Texte die großen Zusammenhänge darstellen und damit ein breites Publikum ansprechen können - deshalb müssen sich die zentralen Aussagen auch am Stand des Wissens messen lassen. Dabei ist es selbstverständlich, dass jede Bewertung von Seiten eines Wissenschaftlers immer berücksichtigen muss, dass ein journalistischer Text kein wissenschaftlicher Text ist, also hier bestimmte Kriterien nicht angewandt werden können.
Der Rezensent, der sich seit über 30 Jahren mit den Alpen beschäftigt, kommt zu einer negativen Bewertung dieses Buches: Die zentralen inhaltlichen Aussagen sind in sich widersprüchlich und zeichnen ein "schiefes" Bild der Alpen, das ihren heutigen Problemen und Potentialen nicht angemessen ist. Dies soll in sechs Punkten begründet werden.
Erstens: Der erste inhaltliche Strang des Buches thematisiert die Geschichte der Alpen als "Verfallsgeschichte" ("Vom Tempel zur Boutique" oder noch treffender in seinem Titel aus dem Jahr 1990: "Die Alpen - schleichende Zerstörung eines Mythos"). Auch wenn dieses Motiv sehr populär ist und immer wieder neu erzählt wird, so ist es dennoch als solches nicht einfach unmittelbar richtig: In der klassischen Zeit der Alpenbegeisterung werden nicht die Alpen in ihrer wahren Bedeutung erstmals entdeckt, sondern es wird das bisherige Fremd- und Klischeebild der Alpen als "montes horribiles" nur durch ein neues Fremd- und Klischeebild ersetzt, das keinesfalls realitätsnäher als das alte ist. Träger dieses neuen Bildes sind gebildete städtische Schichten von weit außerhalb der Alpen (anfangs dominierten lange Zeit die Engländer), die ihr Bild einer idealen heilen Gegenwelt zu den schmutzigen Industriestädten auf die Alpen projizieren. Die Begeisterung und das Bestaunen der Alpen als einer so beeindruckenden "schönen Landschaft" ist nur zu verstehen als Anti-Position zur totalen Vernutzung der Natur in der industriellen Produktion (totale Bewunderung und totale Vernutzung von Natur als zwei Seiten derselben Medaille), bei der beide Male Natur für menschliche Interessen gezielt instrumentalisiert und hergerichtet wird. Und deshalb ist auch die Kommerzialisierung der Alpen im 19. und 20. Jahrhundert keineswegs ein inhaltlicher Gegensatz zu ihrer Bewunderung in der klassischen Zeit, sondern nur die logische Konsequenz daraus: Die Bewunderung der "schönen Alpen" durch die Pioniere in der Zeit zwischen 1750 und 1800 schafft die mentale Grundlegung für den Massentourismus - ohne dieses neue Bild der Alpen hätte sich ein Tourismus gar nicht entwickeln können. Und die Bewunderung der Alpen ist gleich vom allerersten Beginn mit ihrer ökonomischen Ausnutzung verbunden, wie man es im Tagebuch des Philosophen G.W.F. Hegel anlässlich seiner Reise ins Berner Oberland nachlesen kann, der sich bereits 1796 über die Geschäftstüchtigkeit der Älpler gegenüber den Besuchern beschwert. - Selbst wenn man diese Interpretation nicht plausibel findet, so sollte man von einem Journalisten doch erwarten können, dass er diese "Verfallsgeschichte" der Alpen im Jahr 2010 nicht einfach nur unmittelbar präsentiert, also noch einmal nacherzählt, sondern dass er sich mit den Gegenpositionen wenigstens ansatzweise auseinander setzt. Aber dies passiert nicht.
Zusätzlich ist noch eine wichtige Inkonsistenz in dieser Erzählung festzustellen: Im Rahmen seines Ansatzes geht der Autor davon aus (muss er davon ausgehen), dass die "Schönheit" der Alpen eine zentrale, quasi ewige Eigenschaft von ihnen darstellt: "Es scheint eine stillschweigende und voraussetzungslose Übereinstimmung zu bestehen, dass die Alpen schön sind - schön in jedem Sinn" (S. 358). Andererseits weiß Aurel Schmidt, dass die Alpen sehr lange Zeit nicht als "schön", sondern als "schrecklich" und "furchtbar" wahrgenommen wurden und dass ihre Umwertung zu einer "schönen Landschaft" ein historischer Prozess im Kontext der industriellen Revolution war - was jedoch seinem Ansatz fundamental widerspricht. Er versucht diesen Widerspruch folgendermaßen zu lösen: "Wir empfinden beim Anblick einer Landschaft etwas Ergreifendes, das wir in seiner Unbestimmtheit - oder gerade deshalb - als schön in den Kanon aufnehmen. Der auf diese Weise zustande gekommene Schönheitsbegriff ist aber konjunkturellen Schwankungen unterworfen. Was schön ist, wechselt mit den Epochen" (S. 39). Indem der Autor "schön" mit "ergreifend" identifiziert, kann er die schrecklichen Berge - weil auch sie auf den Menschen "ergreifend" wirken - als "schöne" Berge fassen und so der Schönheit einen Ewigkeitscharakter zusprechen - der Rezensent bewertet dies als einen logischen Fehlschluss.
Zweitens: Der zweite inhaltliche Strang des Buches thematisiert die Geschichte der Schweiz, die ganz eng und unmittelbar mit den Alpen verknüpft wird. Damit entwickelt der Autor eine Argumentationskette, die man in der Geographie als "Naturdeterminismus" und in der Philosophie als "naturalistischer Fehlschluss" bezeichnet, indem die Natur der Alpen ursächlich für bestimmte Mentalitäten und Politikformen verantwortlich gemacht wird: "So wie alpine Landschaft und Einfluss der Natur die Geopsyche der Schweizer zu erklären helfen, werden sie auch herangezogen, um die Geopolitik verständlich zu machen. Täler und Berge haben in der Schweiz nachdrücklich eine Staatsform geprägt, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind" (S. 163). Und weiter: "Der Förderalismus ist eine distinkte staatspolitische Form, die sich aus der Kleinkammerung und den Talschaften des Landes ergeben hat. Das ist gemeint, wenn von einer Regierungsform die Rede ist, ‚welche von der Natur bestimmt wird', wie ein Bridel gesagt und ein Rambert versucht hat zu erklären" (S. 163-164).
Wenn man heute als Journalist eine solche Position vertritt, die seit langem als überholt gilt - dies soll aber deshalb nicht prinzipiell negativ bewertet werden - , dann kann man sie jedoch nicht einfach so unmittelbar entfalten, sondern muss sich wenigstens ansatzweise mit den Gegenargumenten auseinander setzen, was Aurel Schmidt jedoch nicht macht. Das klassische Gegenargument gegen diese Position wäre, dass die dargestellte Entwicklung so nur in den Schweizer Alpen und nicht in anderen Alpenregionen abgelaufen ist, die ja genauso kleingekammert sind - aber da sich der Autor allein auf die Schweiz beschränkt, kommen ihm solche Vergleiche nicht in den Blick. Und das letzte Zitat - S. 163-164 mit Verweis auf Bridel (1789) und Rambert (1866) - erweckt den Verdacht, dass sich der Autor unmittelbar an den klassischen Texten der Alpenbegeisterung orientiert und deren inhaltliche Hauptaussagen einfach ungeprüft übernimmt.
Aber selbst der Basisgedanke, dass die Geschichte der Schweiz zentral von den Alpen bestimmt würde, ist falsch: Die Schweizer Eidgenossenschaft ist kein "Alpenstaat", sondern sie wird erst ein politisch stabiles und durchsetzungsfähiges Gebilde, als sich die ländlich geprägten Urkantone der Alpen mit städtisch geprägten Kantonen im Schweizer Mittelland zusammen schließen - die alpin geprägten Paßstaaten allein hätten ihre politische Selbständigkeit nicht dauerhaft behaupten können, wie die Geschichte der anderen Paßstaaten im Alpenraum zeigt. Insofern greift der Grundgedanke des zweiten Stranges auf eine problematische Weise zu kurz. Aurel Schmidt merkt gelegentlich selbst, dass die Gleichsetzung Schweiz = Alpen nur in bestimmten historischen Phasen Konjunktur hat und in anderen gar keine Rolle spielt, aber er zieht daraus keine Konsequenzen.
Drittens: Die inhaltliche Verbindung zwischen dem ersten und zweiten Strang ist dem Autor besonders wichtig, weil dies den Kern seines Buches ausmacht, nämlich die Alpen als Symbol der Schönheit und der Freiheit zugleich. Nachdem sowohl der erste wie der zweite Strang als in sich widersprüchlich und als inhaltlich problematisch bewertet wurden, liegt es auf der Hand, dass die inhaltliche Verbindung beider Stränge nicht gelingen kann, sondern lediglich auf lockeren Assoziationen zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten beruht, die inhaltlich fragwürdig sind. Damit ist die gesamte Konzeption dieses Buches gescheitert, was jedoch nicht am journalistischen Stil liegt, sondern an den zentralen inhaltlichen Voraussetzungen, die der Autor macht.
Viertens: Dass die Konzeption dieses Buches gescheitert ist, macht sein Schluss ganz besonders deutlich: Erstens gehört der Abschnitt "Ausblick in eine nachhaltige Zukunft" nicht zu Kapitel 6 "Alpen 2010: Vom Tempel zur Boutique", sondern zu Kapitel 7, das der Zukunft gewidmet ist, und zweitens trägt Kapitel 7 "Wo ist die Schweiz geblieben ?" (richtiger wäre: Wo sind die Alpen geblieben ?) die falsche Kapitelüberschrift, weil sie auf die Vergangenheit statt auf die Zukunft verweist. Aber das sind eher formale Anmerkungen. Inhaltlich viel gewichtiger ist es, dass in den Abschnitten "Ausblick in eine nachhaltige Zukunft" und "Zehn Thesen über die Zukunft der Alpen" zahlreiche Sachverhalte angesprochen werden, die zuvor im Buch gar nicht behandelt wurden: Alpen als Lebensraum der einheimischen Bevölkerung, Abgeltung der Leistungen der Alpenbewohner für ihren Beitrag zur Erhaltung der Alpen, Erhaltung der Alpen durch Nutzung, transnationale Absprachen, raumordnerische Maßnahmen zur Reduzierung der Zersiedlung, Entwicklung der regionalen Wirtschaft in den Alpen und ähnliches. Hier zeigt sich ein fundamentaler Widerspruch: Das Buch konzentriert sich 343 Seiten lang auf die "Bilder " oder "Images" der Alpen, also auf die mentale Wahrnehmung der Alpen durch fremde Besucher, und erst auf den letzten zwölf Seiten werden auf einmal ganz andere Bereiche angesprochen, die bislang keinerlei Rolle gespielt hatten - dies stellt einen massiven Bruch der Argumentation dar. Schlimmer noch: Dies torpediert das gesamte Anliegen dieses Buches, indem dadurch deutlich wird, dass aus der Auseinandersetzung mit den traditionellen Alpenbildern heraus kein Übergang zur Zukunft der Alpen möglich ist - dazu müsste man ganz anders und völlig neu ansetzen. Es ist erstaunlich, dass dieser gewaltige Bruch dem Autor nicht auffällt.
Deshalb hängen letztlich auch die beiden Zielsetzungen des Autors (a: Leitideen für eine nachhaltige Zukunft der Alpen, b: Leitideen für eine neue Schweizer Identität) argumentativ in der Luft und wirken irgendwie aufgesetzt und angehängt. Sie sind nicht zufälligerweise dadurch geprägt, dass sie lediglich populäre Meinungen reformulieren, ohne durch den Durchgang durch die Geschichte der Alpen neue Aspekte, neue Einsichten oder neue Begründungen hervorzubringen. Der Rezensent kann sich nicht vorstellen, dass sie in der öffentlichen Diskussion der Schweiz eine Rolle spielen werden.
Fünftens: Wie kommt ein solches Buch zustande, das so stark durch innere Widersprüche geprägt ist? Zuerst einmal ist festzustellen, dass die klassische Zeit der Alpenbegeisterung auf den Autor offenbar eine sehr große Faszination ausübt und dass er sich oftmals mit den damaligen Positionen identifiziert. Dann ist es so, dass die inhaltliche Engführung Schweiz = Alpen in der Zeit des Dritten Reiches als schweizerische Abwehr nationalsozialistisch-völkischen Gedankenguts sehr stark gemacht wurde und dass diese Position in der Nachkriegszeit für viele Jahre dominant war, ehe sie im Kontext der Entwicklung des Jahres 1989 schnell verblasst. Eine Reihe von Kleinigkeiten in der Darstellung wirken auf den Rezensenten so, als würde dieses Buch den Geist der 1960-1970er Jahre atmen. Und schließlich ist festzustellen, dass das Buch von 2011 in seiner Grundkonzeption und in seinen Grundpositionen dem Buch von 1990 sehr ähnlich ist - für Aurel Schmidt hat sich in den Alpen zwischen 1990 und 2011 offenbar nichts Wesentliches geändert.
Dabei wären jedoch zwei wichtige inhaltliche Veränderungen zu diskutieren: Die besondere Faszination der Alpen als "schöner Landschaft" war bis in die 1980er Jahre hinein vorhanden, nimmt aber seitdem sehr stark ab und wird Vergangenheit. Und zweitens setzt im Jahr 2005 in der Schweiz ein völlig neuer Alpendiskurs ein, indem Wirtschaftsvertreter die Konzentration aller staatlichen Finanzmittel auf die Schweizer Metropolitanräume und die Einstellung der Berggebietsförderung fordern, was unter dem provokanten Stichwort der "alpinen Brache" seitdem heftig diskutiert wird. Es ist erstaunlich, dass beides von Aurel Schmidt nicht explizit thematisiert wird.
Sechstens: Zur Methode und zum Argumentationsgang: Große Teile des Buches bestehen aus längeren Zitaten und langen Paraphrasen historischer Texte verschiedenster Autoren. Dabei verletzt Aurel Schmidt alle Regeln einer sachgemäßen Textinterpretation, selbst wenn man als Maßstab einen journalistischen Argumentationsgang zu Grunde liegt. Dies betrifft folgende Punkte:
a) Der Autor benutzt einen ganz bestimmten "Kanon" von historischen Texten, auf die er in den verschiedenen Kapiteln immer wieder zurückgreift, ohne dass er irgendwo skizziert, welches sein Auswahlkriterium dafür ist. Da seine Quellenauswahl sehr heterogen ist - sehr viele Reiseberichte und Reiseliteratur meist aus der Zeit zwischen 1750 bis 1850, daneben Romane, Essays, Zeitungsartikel und wissenschaftliche Texte, die zwischen 1574 und 2009 erschienen sind - fällt dieser Mangel besonders auf.
b) Der Autor behandelt alle seine Texte wie "Augenzeugenberichte", d.h. er liest und interpretiert sie unmittelbar, ohne auf ihre jeweiligen Hintergründe zu reflektieren. Dies wird besonders auffällig an solchen Stellen, an denen er nacheinander Texte verschiedener Autoren aus unterschiedlichen Epochen zu einem bestimmten Thema präsentiert, die sich natürlich mindestens teilweise untereinander widersprechen. Hier fragt er nicht, ob die beschriebene Realität sich vielleicht im Laufe der Zeit verändert hat oder ob die zitierten Autoren den gleichen Sachverhalt nur unterschiedlich interpretieren - er lässt die einzelnen Ansichten einfach nebeneinander stehen. Da aber gerade die gesamte Alpen-Thematik sehr stark emotional und normativ aufgeladen ist, kann man die Quellen nicht unmittelbar interpretieren, sondern müsste die normativen Hintergründe und Zielsetzungen der Autoren reflektieren, damit man diese Quellen angemessen verstehen kann.
c) Der Argumentationsgang innerhalb der Kapitel ist sehr assoziativ und folgt keiner expliziten Logik: Die Übergänge von den Aussagen eines Autors zum nächsten erscheinen zufällig, und es hat den Eindruck, als hätte Aurel Schmidt einen riesigen Zitatenschatz nach vielen kleinen Einzelthemen Geordnet, aus dem er sich einfach bedient. Und in der Begeisterung über die Aneinanderreihung von schönen Zitaten passiert es ihm immer wieder, dass er seinen eigenen Zeitrahmen sprengt: Im 4. Kapitel, das eigentlich dem 18. Jahrhundert gewidmet ist, bringt er Zitate aus dem Jahr 1937 und zieht daraus den (falschen) Schluss: "Man sieht: Über einen Zeitraum von fast 200 Jahren hinweg wiederholen sich die Aussagen über den Zusammenhang von Landschaft, Charakter und Freiheitssehnsucht" (S. 161). Besonders sprunghaft ist Kapitel 2 angelegt, wo nach den "Kriterien für die Bestimmung einer schönen Landschaft" (S. 38-45) der "Berg in der chinesischen Malerei und Philosophie" (S. 46-50) und "Heilige Berge" weltweit (S. 50-54) thematisiert werden, worauf sich dann unvermittelt Überlegungen zu "Schweizer Bergsagen" (S. 54-64) anschließen.
Die zahlreichen Zitate und Textparaphrasen, die in ihrer bunten Vielfalt und Anschaulichkeit eigentlich die Stärke dieses Buches ausmachen könnten, verlieren deshalb schnell ihre Lebendigkeit und werden ermüdend, langatmig und langweilig.
Zusammenfassende Bewertung: Dieses Buch ist für die Bibliothek aller Geographischen Institute zu empfehlen, weil es sich im akademischen Unterricht sehr gut dazu eignet, den Studenten die Gefahren und Probleme einer "unmittelbaren" Textinterpretation anschaulich vor Augen zu führen und ihnen die Fallstricke einer groß angelegten Alpengesamtdarstellung zu verdeutlichen, die "einfach so" durchgeführt wird, ohne dabei die eigenen normativen Voraussetzungen zu reflektieren.
Werner Bätzing
Zitierweise:
Werner Bätzing: Rezension zu: Aurel Schmidt: Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte. Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2011. 384 S. In: raumnachrichten.de http://www.raumnachrichten.de/ressource/buecher/1265-schweiz
Kontakt:
Prof. Dr. Werner Baetzing
Institut fuer Geographie
Universitaet Erlangen-Nuernberg
Kochstr. 4/4
D - 91054 Erlangen
Tel.: 09131/852 26 37
Fax: 09131/852 20 13
www.geographie.uni-erlangen.de/wbaetzing
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Das Buch von Aurel Schmidt wird auch auf den Seiten von FAZ.net besprochen.