Dieter Hassenpflug: Der urbane Code Chinas. Basel (Bauwelt Fundamente, 142) 2009. 212 S.

Im letzten Jahrzehnt ist China zu einem Mekka von Architekten und Stadtplanern aus der ganzen Welt geworden. Sie sind fasziniert von der Dynamik der grossen Städte, von der Offenheit für neues Bauen, von der Wissbegier und Freundlichkeit chinesischer Partner, und von den Möglichkeiten, Städte scheinbar ohne umfangreiche administrative Regelungen zu bauen.

Oder sie werden von ehrgeizigen Bürgermeistern und Immobiliengesellschaftennach China geladen, um dort signierte Bauten zu errichten, die den Städten eine an  westlichen Vorbildern orientierte Identität geben. Das Wissen um die Kultur, die baulichen Traditionen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in China ist in der Regel sehr begrenzt. Es beruht meist nur auf sehr flüchtigen Beobachtungen. Also werden immer wieder Annahmen getroffen, die an tradierten europäischen Wertesystemen orientiert sind. Oft müssen die Gründerjahre des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts in Europa als Referenz herhalten, wenn es darum geht, die Prozesse der Stadtentwicklung zu beschreiben, die chinesische Städte derzeit erfahren, Prozesse, die auch durch die jüngste globale Finanzkrise nur verlangsamt, aber nicht gestoppt wurden. Doch dies ist natürlich nur ein sehr unzureichender Versuch, chinesische Stadtentwicklung und die Motive und Werthaltungen ihrer Planer zu verstehen.
Für viele Besucher aus Europa ist China ein Land voller Widersprüche, aber auch voller Entdeckungen und Anregungen. Versuche, dieses Land, seine Gesellschaft und seine Kultur zu verstehen, scheitern doch meist sehr früh an der sprachlichen Hürde.
Nun hat Dieter Hassenpflug, Soziologe an der Bauhaus-Universität in Weimar, ein Buch vorgelegt, in dem er versucht, den urbanen Code Chinas zu beschreiben. Dabei geht es ihm vor allem darum, zu erklären, warum moderne chinesische Städte so und nicht anders gebaut sind, warum der Süden eine so wichtige Funktion für die Bewohner dieser Städte hat, warum die neu erbauten Wohnresidenzen immer als geschlossene Gemeinschaften errichtet werden, oder warum die Begeisterung in China so gross ist, fremde Identitäten und Bauformen zu kopieren, also Wohnquartiere in Anlehnung an holländische, deutsche oder spanische Modelle zu errichten. Dies gelingt ihm überzeugend, und damit grenzt er sich wohltuend von den vielen Beiträgen über China ab, die in den letzten Jahren von China-Reisenden veröffentlicht wurden, in denen sie ihre Reisebeobachtungen zu Papier brachten. Der Band unterscheidet sich damit auch von den meist wenig aufklärenden und inspirierenden allgemeinen Beschreibungen der enormen Wachstumsprozesse chinesischer Städte. Der Autor kennt das Land, und dies nicht nur aus der Perspektive von gelegentlichen Wissenschaftstouristen, die das Land bereisen und sich nach der Rückkehr als Spezialisten fühlen. Im Rahmen vieler Gastprofessuren in China hat er sich mit der Produktion städtischer Räume im Lande intensiv auseinandergesetzt.
Der Autor regt an, die chinesische Stadt genau und ohne Rückgriff auf europäische Erfahrungen zu lesen, die Semiologie des gebauten Raumes zu erfassen und dabei immer die tief verwurzelten Traditionen chinesischer Kultur im Auge zu behalten.
Es ist sympathisch, dass er in diesem Band nicht in den Chor derjenigen einstimmt, die die gedankenlose Verwestlichung des Bauens schnell verurteilen. Er versucht vielmehr viel Verständnis dafür zu finden, warum nach dem Ende der Vorherrschaft sozialistischer Stadtbaukunst westliche Raumbilder und Bauformen bei der Entwicklung neuer Wohnquartiere so grosse Attraktivität entfalten.
Einzelne Abschnitte des Bandes befassen sich mit dem Verhältnis von offenem und öffentlichem Raum, mit Strassenräumen und Plätzen, mit Medienräumen und Medienfassaden, mit chinesischen Interpretationen von Gemeinschaft und Gesellschaft, mit den Formen neuer Nachbarschaften, mit den urbanen Inszenierungen neuer Wohnquartiere und Satellitenstädte, mit den hoch verdichteten grossstädtischen «Dörfern» in chinesischen Städten, mit Stadterweiterungsstrategien und Konzepten. Es ist ein breites Spektrum von Fragen, die hier behandelt werden. Ob dabei alle Interpretationen dessen, was der Autor beobachtet hat und beschreibt, auch aus chinesischer Perspektive bestätigt werden können, muss hier unbeantwortet bleiben.
Man mag der kritischen Bewertung der von Albert Speer gebauten «deutschen Stadt» Anting im Hinterland von Shanghai zustimmen oder nicht. Sie ist jedenfalls eine kenntnisreiche und lesenswerte Auseinandersetzung mit den vielfältigen Problemen des Transfers von gesellschaftlichen Werten und städtebaulichen Formen, auch wenn manchmal etwas emotional ausfällt. Anting wird sicher als ein typisch deutsches Kuriosum in die chinesische Stadtbaugeschichte eingehen. Aber vielleicht ist es noch zu früh, über die ambitionierte Planung dieser Stadt den Stab zu brechen.


Natürlich wäre es interessant zu wissen, wie chinesische Planer und Architekten auf die umfangreichen Erklärungsversuche reagieren, die dieser Band gibt. Ihn ins Chinesische oder zumindest ins Englische zu übersetzen, würde daher viel Sinn machen. Damit könnten die auch in China geführten Diskussionen über Werthaltungen und Bauformen bei der Entwicklung chinesischer Städte und Stadtquartiere belebt werden. Da die sozialräumliche Stadtforschung in China noch in den Kinderschuhen steckt und zudem sehr an anglo-amerikanischer Literatur orientiert ist, könnte der «deutsche» Blick auf China, den dieser Band vor allem  widerspiegelt, neue Anregungen geben, vielleicht auch den einen oder anderen Widerspruch hervorrufen.
Architekten und Planer, die sich in den kommenden Jahren von Deutschland aus auf den Weg nach China machen, sei es als neugierige Fachtouristen, als Teilnehmer einer Fachstudienreise oder als geladene Architekten und Planer, sollten sich zu Hause erst durch diesen Band lesen, bevor sie das Visum beantragen. Der Flug nach Beijing oder Shanghai ist dafür sicher zu kurz.
Klaus R. Kunzmann

 

Quelle: disP 176, 1/2009, S. 66-67