Achim Brunnengräber, Kristina Dietz, Bernd Hirschl, Heike Walk u. Melanie Weber: Das Klima neu denken. Eine sozial-ökologische Perspektive auf die lokale, nationale und internationale Klimapolitik. Münster 2008. 256 S.

Ohne Zweifel ist der Klimawandel seit gut zwei Jahren eines der dominierenden Themen der öffentlichen  Debatte. Das führte jedoch nicht zu einer Stärkung kritischer Perspektiven gegenüber der gegenwärtigen Klimapolitik. Diese Eindimensionalität der öffentlichen Bearbeitung des Klimaproblems nehmen Verf. zum Ausgangspunkt und überlegen, »wie über die bisherigen gesellschaftlichen Antworten auf den Klimawandel hinausgedacht werden kann« (12). Mit dem Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse wählen Verf. eine – gegenüber naturalistischen bzw. kulturalistischen Betrachtungsweisen – alternative Perspektive auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur. Den Klimawandel begreifen sie demnach als »eine tief reichende Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse und als Problem globaler Gerechtigkeit« (12).

Eine Mehrebenenperspektive sei erforderlich, um den verschiedenen Problemdimensionen des Klimawandels – der Problemkomplexität, der Vielzahl der Akteure, den multiskalaren Handlungsebenen sowie den sich überschneidenden Politikfeldern – gerecht zu werden. Erst so seien »auch die widersprüchlichen Wechselwirkungen, marginalisierten Diskurse oder die Partizipationsdefizite in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen« bestimmbar (14f).
Im ersten Teil des Buches erarbeiten Verf. den theoretisch-konzeptionellen Rahmen. Das Konzept der Multi-Level-Governance (MLG) erweitern sie um verschiedene Theorieansätze, um dessen zentrale Blindstellen zu beheben. Der Regulationsansatz soll in der MLG vernachlässigte Macht- und Herrschaftsverhältnisse im politischen Entscheidungsprozess ins Blickfeld rücken und wird durch Ansätze aus der kritischen Raumtheorie ergänzt. So können Verf. – wie entsprechende Arbeiten zu den Politics of Scale – danach fragen, »unter
welchen sozialen Bedingungen bestimmte politische Problemstellungen zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen auf bestimmten Handlungsebenen werden« (41). Dieser theoretisch-konzeptionelle Rahmen erlaubt die Analyse von Strukturen und Prozessen im Mehrebenensystem, der zugehörigen Akteure und Institutionen, der Frage nach der Durchsetzung bestimmter Regelungs- bzw. Interaktionsformen sowie der veränderten Rolle des Staates bzw. der Transformation von Staatlichkeit. – Im zweiten Teil analysieren Verf. die internationale Klimapolitik. Nach einer knappen Schilderung der Genese des Kyoto-Protokolls werden zentrale Akteure und Institutionen vorgestellt sowie die klimaschützende Wirkung der fl exiblen Kyoto-Instrumente kritisch hinterfragt. Darüber hinaus untersuchen Verf. die öffentliche Wahrnehmung des Klimawandels und gehen dabei v.a. auf den Einfluss wissenschaftlicher Unsicherheiten, der Komplexität des Problemzusammenhangs, der medialen Vermittlung sowie auf Genderaspekte ein.
Im dritten Teil benennen Verf. zwei entscheidende blinde Flecken der gegenwärtigen Klimapolitik. Erstens verweisen sie im Rahmen einer Darstellung der politischen Entwicklung zur Förderung erneuerbarer Energien im Mehrebenensystem darauf, dass es einerseits auf internationaler Ebene zu erneuerbaren Energien »noch keine ›harten‹ politischen Verhandlungen oder Beschlüsse« gebe, so dass das etablierte Energiesystem gestärkt werde (148). Andererseits habe es trotzdem auf nationaler Ebene teils einen starken Institutionalisierungsprozess bei erneuerbaren Energien gegeben – z.B. in Deutschland mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, dessen ebenenübergreifende Einbindung anhand von subnationalen Bezügen und der Beeinfl ussung durch Aktivitäten der EU-Kommission aufgezeigt wird. Zweitens werden ausgeblendete Fragen sozial-ökologischer Gerechtigkeit in Bezug auf Verwundbarkeit und Anpassung thematisiert. Entgegen der dominanten Sichtweise sei Verwundbarkeit kontextabhängig, d.h. es existieren »räumlich, sozial und zeitlich differenzierte Formen« (156). Anhand der Darstellung zentraler Begriffe, Instrumente und Akteure der internationalen AnpassungsÖkologie politik und der Länderbeispiele Tansania und Nicaragua machen Verf. deutlich, »dass die inhaltliche und geographische Schwerpunktsetzung im Bereich Anpassung losgelöst von den kontextspezifischen Herausforderungen am lokalen Ort stattfindet« (184).
Im vierten Teil stellen Verf. hegemonie-theoretische Überlegungen an. Sie verstehen die gegenwärtige Bearbeitung des Klimawandels als Regulation krisenhafter gesellschaftlicher Naturverhältnisse, bei der sich ein »neues globales Regulierungssystem« (191) ausbilde.
Dieses sei von einer »strategischen Selektivität« (Jessop) geprägt: Lösungsstrategien, die die Output-Seite des fossilistischen Energieregimes (Emission von Treibhausgasen) betreffen, werden gegenüber solchen, die an der Input-Seite (Energieproduktion) ansetzen, privilegiert. Dies zeige sich besonders in der internationalen Klimapolitik, denn die Kyoto-Mechanismen haben auf die Input-Seite faktisch keine Auswirkungen – teilweise stehen sie einer Reduktion des Verbrauchs fossiler Energieträger sogar entgegen. Ursache hierfür sei der hegemoniale Diskurs, der die Klimakrise als äußere Krise darstelle, die mit marktkonformen Mechanismen entschärft werden solle. Verf. sehen Klimawandel jedoch als systemimmanente Krise, die neben sozialen Verhältnissen ebenso materiell-stoffliche Veränderungen und ökonomische Interessen umfasst. Abschließend legen Verf. dar, dass Klimawandel kein globales Umweltproblem ist, sondern »globale und lokale Prozesse gerade auch in ihrer Widersprüchlichkeit eng miteinander verwoben sind« (201). Eine multiskalare Perspektive sei deshalb zwingend notwendig, um die aktuelle Verengung der Klimapolitik auf die internationale bzw. nationale Ebene zu überwinden. Nur anhand einer solchen ›glokalen‹ Betrachtung, die »von der lokalen bis zur globalen Ebene reicht und die funktional eng miteinander verknüpfte und umkämpfte Politikfelder einbezieht, lassen sich die ozial-ökologischen wie politischen Wechselwirkungen, die sozial-ökologischen und sozial-räumlichen Verteilungsprobleme sowie alternative Ansatzpunkte für die Problembearbeitung erfassen« (ebd.).


Die Stärke des Buchs liegt in der Analyse gegenwärtiger Klimapolitik, die hinsichtlich ihrer Strukturen, Problemwahrnehmung und Konsequenzen präzise untersucht wird. Hier hat das Werk Handbuchcharakter. Indem es Blindstellen benennt, trägt es erheblich zur Entwicklung einer kritischen Perspektive bei. Leider verfolgen Verf. keinen stärker normativen Ansatz, der Aufschluss darüber gibt, wie eine sozial-ökologisch gerechte Bearbeitung des Klimawandels konkret forciert werden könnte. Auch wenn an vielen Stellen erste normative Ansätze vorliegen, werden diese kaum weiterverfolgt. So werden etwa die Kyoto-Mechanismen einerseits als output-orientiert und marktkonform grundsätzlich abgelehnt, ihnen andererseits aber offenbar ein Reformbedarf bescheinigt. Gerade wenn Verf. die Klimapolitik mit Gramsci zurecht als »hegemoniales Projekt« (197) beschreiben – da trotz dominierender Partialinteressen eine vermeintliche Interessenharmonie im Kampf gegen den Klimawandel konstruiert wird – und sie folglich die Notwendigkeit betonen, gegen-hegemoniale Perspektiven zu stärken, wäre es spannend zu lesen, wie diese Stärkung konkret aussehen könnte. Dennoch liefern Verf. einen sehr wichtigen Beitrag, der viele zentrale Fragen aufwirft und von dem aus Wege gefunden werden können und müssen, das Klima nicht nur neu zu denken, sondern dieses Feld auch entsprechend neu zu bearbeiten.
Philip Bedall und Elias Perabo

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 368-369