Udesh Pillay, Richard Tomlinson und Orli Bass (Hg.): Development and Dreams. The Urban Legacy of the 2010 Football World Cup. Cape Town 2009. 316 S.

Südafrikas Human Sciences Research Council hat sich mit diesem Sammelband die Aufgabe gesetzt, die wahrscheinlichen Konsequenzen der Fussballweltmeisterschaft 2010 für die Wirtschaft des Landes und seiner Städte, für die Infrastrukturentwicklung und für die Zukunft von afrikanischer Identität und Kultur zu analysieren. Die Einleitung legt die Tonart fest: Die FIFA, die schon bei der WM 2006 in Deutschland 2,6 Mrd. US$ an Einnahmen verbuchen konnte, wird 2010 noch einmal um mindestens 25 % mehr einnehmen.

Durch den Verkauf von Fernsehrechten sowie durch Partnerschaftsverträge mit Großkonzernen und Sponsoren erzielt die FIFA gewaltige Profi te; die daraus resultierende Machtstellung nützt sie in den Verhandlungen mit den lokalen Organisatoren gnadenlos aus. Für die gastgebenden Länder und Städte kann man von vergleichbaren Profi ten jedoch keineswegs ausgehen. Die Ankündigung der Regierung, mit den vorgesehenen Ausgaben in Höhe von 30 Mrd. Rand würde die Arbeitslosigkeit halbiert und eine gewaltige Steigerung des Prokopfeinkommens in Gang gesetzt werden, wird sich mit Sicherheit nicht erfüllen. Schon für die WM in Deutschland lässt sich allenfalls ein sehr bescheidener ökonomischer Nutzen feststellen. Fundierte
Prognosen für Südafrika sehen angesichts enormer Kostensteigerungen noch düsterer aus. Was die WM für Deutschland brachte, war jedoch ein bedeutsamer Imagegewinn im internationalen Ansehen – und das Gleiche erhoffen sich die Autoren auch für Südafrika: eine Korrektur des durch das koloniale Othering produzierten Negativbildes des Kontinents.
Mit ökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen befassen sich vor allem die Beiträge von Glynn Davies („Managing the alchemy of the 2010 Football World Cup“), Stan du Plessis und Wolfgang Maennig („Initial dreams and sobering economic perspectives“) sowie in auf den Tourismus eingeschränkter Perspektive Scarlett Cornelissen („Sport, mega-events and urban tourism“) und Doreen Atikinson („The 2010 World Cup and the rural hinterland“). Davies weist darauf hin, dass man bei den Kosten unterscheiden muss zwischen a. direkt für das Turnier getätigten Ausgaben (z.B. Stadien und Zufahrtswege, aber auch Sicherheitsvorkehrungen und medizinische Dienste), b. Ausgaben, die irgendwann später ohnehin getätigt worden wären (Transport-Infrastruktur z.B.), und c. Ausgaben, die für das Event getätigt werden, aber der Wirtschaft auch längerfristig nützen (Tourismus z.B.). Er errechnet, dass für den ersten Posten rund 15 Mrd. Rand eingeplant waren (eine Summe, die wohl um 20 % überschritten werden wird), für Posten 2 und 3 zusammen etwa 400 Mrd. Du Plessis und Maennig liefern eine Liste mit den Baukosten für die einzelnen Stadien – genau wie Davies, ohne dass die Daten der beiden Artikel miteinander abgeglichen würden (der eine Beitrag rechnet zudem in Rand, der andere in US$). Sie liefern darüber hinaus eine Liste mit den Einnahmen des deutschen Organisationskomitees 2006, die ein – gemessen an den FIFA-Profi ten allerdings winziges – unverhofftes Plus aufwies, weil weit mehr Eintrittskarten als erwartet verkauft worden waren; in Südafrika sei mit solchen Zusatzeinnahmen nicht zu rechnen, trotz (oder wegen) der für Südafrikaner aufgrund ihrer niedrigeren Einkommen verbilligten Tarife. Ansonsten referieren sie eine Reihe von
Kosten-Nutzen-Analysen zur WM in Deutschland, aus denen z.B. hervorgeht, dass es eher marginale Wirtschaftssektoren waren, die defi nitiv einen Nutzen aus dem Event zogen, Bierbrauereien vor allem, daneben Wechselstuben und Tischfussballproduzenten. Ferner referieren sie, dass die Zahl der Hotelübernachtungen in Deutschland im Juni 2006 im Vergleich zu Juni 2005 um 2,7 % zurückging, in München gar um 14,3 %, in Berlin um 11,1 % (die Einnahmen der Hoteliers allerdings gingen wegen Preiserhöhungen nicht zurück) – eine Angabe, die in dem Band bei jeder passenden Gelegenheit wiederholt wird (z.B. S. 9, 61, 68, 96, 136). Insgesamt zeigen sich die beiden Autoren bezüglich der ökonomischen Folgen der WM 2010 gemäßigt optimistisch. Cornellissen und Atkinson widmen ihre Aufmerksamkeit dem Problem, wie das Event für Tourismus-Marketing genutzt werden könne, Cornellisen mit Bezug
auf die gastgebenden Städte, Atkinson für das agrarische und weitgehend aride Hinterland von Cape Town. Beide kommen zu dem nicht allzu überraschenden Ergebnis, man müsse es fertigbringen, „new destination brands“ für die Städte bzw. Regionen zu kreieren,  unverwechselbare Markenzeichen wie Mercedes oder Coca Cola, dann würde das mit dem Tourismus schon hinhauen.
Mit den Konsequenzen des Events für die Armen Südafrikas befassen sich explizit drei Beiträge: Udesh Pillay und Orli Bass: „Mega-events as a response to poverty reduction“, Claire Bénit-Gbaffou: „Democracy and displacement in the Greater Ellis Park Development Project“ und André Czeglédy: „The 2010 Football World Cup and expectations of benefit in Johannesburg“. Bénit-Gbaffou analysiert das Stadtentwicklungsprojekt, mit dessen Hilfe das Umfeld des WMStadions von Ellis Park in Johannesburg, das teilweise an slumartige und wenig dicht bebaute Wohnviertel angrenzt, saniert und verschönert werden soll. Zentrales Instrument ist das „Better Building Programme“. Es funktioniert folgendermaßen: Wenn ein privater Investor bereit ist, ein heruntergekommenes Gebäude zu kaufen, begleicht die Stadt alle Zahlungsrückstände (die bei Wasser und Strom oftmals Millionen Rand betragen), und der Investor kann das Gebäude praktisch zum Nulltarif erwerben unter der Bedingung, dass das Gebäude renoviert und instandgesetzt und Überbelegung vermieden wird. Ansonsten gibt es keine Auflagen, weder Mietpreiskontrollen noch Verpflichtungen zur Beteiligung an den Kosten für öffentliche Güter. Massenhafte kurzfristige Kündigungen für Mieter (dokumentiert vor allem bei Czeglédy) sind die wenig überraschende Folge. Gegenüber Straßenhandel und sonstigen informellen Aktivitäten propagiert die Stadtverwaltung von Johannesburg eine „Null-Toleranz-Strategie“, was, wie Czeglédy und Bénit-Gbaffou übereinstimmend konstatieren, als direkt gegen die arme Bevölkerung gerichtete Politik angesehen werden muss. Der Johannesburg-Bezug verleiht diesen beiden Artikeln eine historische Konkretion, die dem Beitrag von Pillay und Bass etwas abgeht. Dafür fi nden sich dort allgemeinere Überlegungen zu den Hoffnungen auf Armutsreduzierung durch Mega-Events. Sie beziehen sich vor allem auf alternative Anlagemöglichkeiten für die in das Event investierten öffentlichen Gelder; anderswo investiert hätten diese möglicherweise stärker  armutsreduzierende Effekte. Spezifi scher weisen Pillay und Bass darauf hin, dass der mit solchen Events verbundene Bauboom regelmäßig die Immobilienpreise in die Höhe treibt – und damit auch die Wohnkosten für die ärmere Bevölkerung.
Der aus der Austragung der WM möglicherweise resultierende Wohlfühl- und Imagegewinn wird in fast allen Beiträgen des Bandes angesprochen. In dem schon erwähnten Artikel von du Plessis und Maenning wird er für Deutschland sogar zahlenmäßig erfasst, u.a. mittels des „WTP-Indexes“, für den 500 Menschen befragt wurden, ob und gegebenenfalls wie viel Geld sie für öffentliche Zwecke zu spenden bereit wären (was für ein irres Maß!). Und siehe da, nach der WM waren es bedeutend mehr als davor. Gleiches erhoffen sich die Autoren auch für Südafrika. Seriöser sind die Beiträge von Orli Bass „Durban 2010 and notions of African urban identity“ und André Czeglédy „A World Cup and the construction of African reality“. Bass ist (mit Achille Mbembe) der Überzeugung, die Austragung der WM in Südafrika habe sich dann und nur dann gelohnt, wenn sie dazu beitrüge, afrikanische Identität zu stärken und das Afrikabild in der Welt grundlegend zu verändern. Aber, so fährt sie fort, afrikanische Identität sei keine einheitliche, in sich geschlossene, sondern eine variable Größe; und je nachdem, worauf der Akzent liege, ergäben sich sehr unterschiedliche Konsequenzen. Unter diesen Voraussetzungen analysiert sie die Bilder, mit denen sich (der WM-Austragungsort) Durban und das umliegende KwaZulu-Natal der Weltöffentlichkeit zu präsentieren suchen.
Das Ergebnis ist spannend: Während sich die Stadt Durban als moderne, sowohl afrikanische als auch weltläufige Großstadt darstellen will, beschwört KwaZulu-Natal in seiner Kampagne mythische Ideen vom Zulu-Königreich als einem ländlichen, von wilden Tieren und malerisch kostümierten Eingeborenen bewohnten Paradies, und perpetuiert damit gerade die stereotypen kolonialen Repräsentationen von afrikanischer Kultur und Identität. Wie die beiden Kampagnen zusammengeführt werden können, bleibt offen. Für Czeglédy schließlich ist die WM die Chance, das Bild von Afrika, das die kolonialen Mächte in den Jahrhunderten ihrer Herrschaft konstruiert und dem Kontinent übergestülpt haben, endlich zu zerstören. Er ist überzeugt, dass der World Cup die Wende bringen wird, die all jene verzerrenden historischen Ablagerungen zerbrechen und Afrika seine Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen lassen wird; denn hierzu brauche es nicht in erster Linie Diplomatie, sondern lebendige Erfahrungen und Emotionen, wie die einer WM. Sein Wort in Gottes Ohr!
Zwei Beiträge fallen aus dem durch die Einleitung gesetzten Rahmen etwas heraus: Christoph Haferburg, Theresa Golka und Marie Selter: „Public viewing areas: Urban interventions in the context of mega events“ und Margot Rubin: „The offside rule: Women’s bodies in masculinised spaces“. Rubin weist zunächst darauf hin, dass Fußball einer der zentralen Orte ist, an denen heute so genannte maskuline Charakterzüge wie Aggression, Wettkampfgeist, Entschlossenheit etc. eintrainiert werden – und zugleich einer der Orte, an denen hegemoniale Maskulinität sich zu Hause fühlen kann. Wenn dann, wie bei der WM in Japan und Korea, mehr als die Hälfte der Zuschauenden Frauen sind, kann mann sich das nur auf zweierlei Weise erklären: Entweder die Frauen kommen aus sexuellem Interesse (um schöne Männerkörper zu betrachten) und sind dann keine richtigen Fans; oder sie kommen aus Interesse am Spiel und sind dann keine richtigen Frauen. Dass Frauen bei World Cups in hellen Scharen als Prostituierte „benötigt“ werden (als Fans aber eher unerwünscht bleiben), galt in Deutschland 2006 als selbstverständlich – und dann kamen sie gar nicht
und wurden auch nicht vermisst. Ähnlich pervers wie damals hierzulande verlaufen in Südafrika heute die Diskussionen z.B. über eine zeitlich auf die WM-Tage beschränkte Legalisierung der Prostitution. Haferburg, Golka und Selter sind der Überzeugung, dass die vielen Public Viewing Areas in Berlin 2006 dazu beigetragen haben, alte soziale und räumliche Disparitäten zu beseitigen, und dass Ähnliches auch in Südafrika geschehen könnte. In Berlin sei dies vor allem dadurch zustande gekommen, dass die verschiedenen Areas räumlich eng mit einander vernetzt waren, so dass viele Menschen ohne Schwierigkeiten von einer zur anderen wandern oder fahren konnten. Aufgrund dieser Einsicht entwerfen die drei AutorInnen dann für Cape Town einen Plan, nach dem eine ganze Reihe von Public Viewing Areas entlang der zentralen Verkehrsachse N2 aufgereiht werden soll. So würden die mehr oder weniger heruntergekommenen Cape Flats besser mit der City Bowl vernetzt und mehr soziale Integration ermöglicht – eine ziemlich gewagte sozialtechnologische Utopie.


Was in der Einleitung angekündigt, in den Einzelbeiträgen aber sträflich vernachlässigt wird, ist der Einfluss der sich um die FIFA herum gruppierenden, auf Fernseh- und Sponsoren-Verträgen gründenden „Sports-Media-Business-Alliance“ auf die gesamten die WM betreffenden Planungs- und Entscheidungsprozesse in Südafrika. Zwar werden die mutmaßlich auf den Einfl uss dieser Allianz zurückzuführenden Projekte des „Gautrain“ zwischen Johannesburg und Pretoria und des „King Shaka International Airport“ in Durban mehrfach kritisiert; und die Entscheidung zugunsten von Green Point und gegen Athlone als Standort für das WM-Stadion in Kapstadt wird gar als „nationaler Skandal“ (231; ähnlich 7) gebrandmarkt – aber gründlich analysiert wird keiner dieser Fälle. Dabei ist der Standortauswahl in Kapstadt sogar ein eigener Artikel gewidmet: Kamilla Swart und Urmilla Bob: „Venue selection and the 2010 World Cup: A case study of Cape Town“. Die Auseinandersetzungen, die zur Entscheidung für Green Point führten, werden jedoch nur in stenografischer Kürze wiedergegeben: Obwohl sich die lokalen Gremien vorher auf Athlone geeinigt hatten, „gaben die Regierung von Western Cape und die City of Cape Town in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 7.2.2006 Green Point Stadion als Standort bekannt“ (121). Der mutmaßliche Grund sei, dass die FIFADelegation der Meinung gewesen sei, „die Billigwohngegend um das Athlone Stadion gäbe für die Fernsehzuschauer keinen geeigneten Bildhintergrund ab und Green Point sei der Topstandort für die Profi lierung Südafrikas“ (122). Mehr gibt es dazu nicht. Peter Alegis ausführliche und gründlich dokumentierte Analyse der ganzen Geschichte („The Politics of World Cup Stadium Construction in Cape Town and Durban“, in: African Studies 67, 3. 12. 2008, 397 ff) taucht nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Stattdessen werden über viele Seiten hinweg Ergebnisse einer Umfrage in je 100 Haushalten in Athlone und Green Point referiert, aus denen z.B.  hervorgeht, dass 18 % der Befragten in Athlone und 21 % in Green Point nicht wussten, wo die Spiele stattfi nden würden; dass 24 % in Athlone und 29 % in Green Point keine Ahnung hatten, welches der beiden Stadien als Trainings- und welches als Wettkampfarena vorgesehen war; dass 95 % hier und 88 % da gerne über den Fortgang des Stadionbaus unterrichtet würden, 35 % über Zeitungen, 24 % über Radio, 16 % über SMS und so weiter. Das Vertrauen in den intrinsischen Wert von demoskopischen Umfragen ist hier wie in vielen Beiträgen des Bandes ungebrochen. Der in der Einleitung noch deutlich zu spürende gesellschaftskritische Impetus geht dabei Zug um Zug verloren. Am überzeugendsten aufrechterhalten wird er in den spannenden Artikeln von Claire Bénit-Gbaffou und Orli Bass.
Gerhard Hauck

 

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 117, S. 116-120