Josef Birkenhauer: Traditionslinien und Denkfiguren. Zur Ideengeschichte der sogenannten klassischen Geographie in Deutschland. Stuttgart 2001 (Erdkundliches Wissen 133). 118 S.

Birkenhauers kleine "Ideengeschichte" bietet dem Leser nicht nur einen Überblick zu jüngeren "strittigen und unstrittigen Auffassungen" geographischer Autoren über ausgewählte Vertreter "der klassischen deutschen Geographie", d.h. der Zeit des späten 18. Jahrhunderts bis etwa 1970, die er nach Triftigkeit und Plausibilität diskutiert, sondern versucht darüber hinaus auch die Denkfiguren um die Entfaltung des "Kern-Paradigmas" der klassischen Geographie zum Verhältnis von Mensch und Natur/Raum nach Traditionslinien zu ordnen und nach drei Dimensionen - "eine emanzipatorische, eine der zunehmenden Bewusstheit chorologischer Eigenständigkeit und eine genetisch-prozessuale" (78) - in eine schematische Übersicht zu bringen.

Aufgenommen wurden in diese Übersicht Herder, Kapp, Ratzel, Hettner und Schmitthenner, nicht dagegen der von den Genannten selbst als Vordenker anerkannte Carl Ritter. Dieser habe "nur wenig - wenn überhaupt - zur Entwicklung und Akzentuierung der drei Dimensionen und der Hauptmotivik beigetragen" (79) und das freiheitliche Menschenbild Herders teleologisch-deterministisch umgeprägt. Er müsse daher "als Geodeterminist" bezeichnet werden, wenn auch "nicht als ein absoluter, aber eben doch als ein struktureller" (45f.). Mit Ritter (wie den anderen Geographen) macht es sich Birkenhauer jedoch zu einfach, wie hier nur angedeutet werden kann. So diskutiert er weder ernsthaft dessen berühmten Vortrag über das "historische Element" in der Geographie von 1833, dem er zwar gewisse indeterministischen Züge attestiert, diese aber dann sogleich als "eher kindliche Kritzeleien im Sandkasten" (45) abtut, noch geht er auf seine "geographischen Produktenkunde" ein, die von aktiver und passiver grenzüberschreitender (universaler) Mobilität handelt und für die Determinismusfrage Erhellendes brächte. Ja, er benennt gar mit Hanno Beck einen Kronzeugen für seine Position, bei dem das glatte Gegenteil steht: "Er [Ritter] war kein Geodeterminist. Er hatte einen flexiblen Raumbegriff" (1979:121). Von Ratzel, der vielen als Geodeterminist gilt, heißt es dagegen apodiktisch, er "ist echter Positivist [gemeint ist: Possibilist]; er ist kein Geodeterminist" (54). Nur die für den Tagesbedarf gedachten Schriften Ratzels zeigten starke geodeterministische Spuren. Tatsächlich wechseln in Ratzels wissenschaftlichen Arbeiten klar geodeterministische Passagen mit wichtigen Einschränkungen ab, die bis zur Betonung menschlicher Willkür gehen konnten. Aber auch der freie Wille wurde von ihm in die strenge "Schule des Raumes" geschickt und ihren Gesetzen unterworfen. Eine Krux bei Birkenhauers Interpretationen ist eben, dass er, von Wunschdenken verführt, viel zu stark (quasi teleologisch) linearisiert, wie nicht zuletzt das obskure Schema (80) belegt, und viel zu wenig mit (im Mensch-Natur-Paradigma schon strukturell angelegten) semantischen Volten und Widersprüchen bei den Autoren rechnet, obwohl er deren Berücksichtigung als Merkmal einer "rationale Hermeneutik" verspricht (9). Diese Ausblendung gilt auch für Herder, der Birkenhauer besonders am Herzen liegt und in dem er (nicht zu Unrecht) einen entscheidenden Ideengeber der behandelten Vertreter der klassischen Geographie erkennt, die für ihn letztlich nur die Herdersche Ideenwelt weiter entfalten. Doch ist der Herder Birkenhauers ein strikter Aufklärer, während schon der Blick in ein größeres philosophisches Lexikon genügt hätte, um von der Ambivalenz der Herderschen Gedankenwelt zu überzeugen, die sich auch in den zahlreichen Schriften über ihn spiegelt. Trotz dieser Kritik kann Birkenhauers Studie dazu anregen, sich intensiver mit der Geschichte der großen Ideen dieser klassischen Epoche unseres Faches auseinander zu setzen, womit schon viel erreicht wäre. Eine andere Sache ist es dagegen, ob dabei die traditionelle innergeographische Fragestellung, inwieweit jemand Determinist oder Possibilist resp. Indeterminist "ist", weiterhin im Mittelpunkt des Interesses stehen wird bzw. sollte, oder ob nicht andere Fragestellungen und Konzepte der Wissenschaftsgeschichtsschreibung größere Ergiebigkeit versprechen.

Autor: Hans-Dietrich Schultz

Quelle: Die Erde, 134. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 118-119