Seyla Benhabib: Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte mit Jeremy Waldron, Bonnie Honig und Will Kymlicka.  Frankfurt/M., New York 2008. 192 S.

Während Michael Hardt und Toni Negri über das "Empire" oder Stephen Gill über den "Neuen Konstitutionalismus" schreiben, hat sich im Rahmen normativer Ansätze zur Analyse der zunehmenden Relevanz transnationaler Rechtsregime das Konzept des "Kosmopolitismus " durchgesetzt. Auch wenn beide Positionen unterschiedliche Phänomene vor Augen haben - die globale politische Ökonomie einerseits, Menschenrechtsregime andererseits -, erhoffen sich beide eine Marginalisierung der Nation-Form. Benhabibs diskursethische Argumentation erweitert die normativen Ansätze um eine anspruchsvolle Variante.

Ihren Ausgang nehmen ihre Tanner Lectures (2004) von einer Kontroverse zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers über den Eichmann-Prozess 1961 in Israel und dem Dilemma, dass es für den Rechtsprozess gegen das gewaltigste Verbrechen, nämlich dasjenige gegen die Menschheit, wie Arendt schreibt, nur ein lokales und kein transnationales Forum gab. Die Menschenrechte waren zu Arendts Zeiten, worauf Waldron treffend hinweist, das "was wir heute soft law nennen würden" (87). Doch dies hat sich spätestens seit den 1990er Jahren mit der Herausbildung transnationaler Rechtsregime geändert. Genau hier setzt Benhabib ein. Wie Habermas interpretiert sie diese Veränderungen in den Kategorien von Kants "Weltbürgerrecht", also jener dritten Sphäre jenseits von nationalem und Völkerrecht. Diese kosmopolitischen Normen zeichneten sich dadurch aus, dass sie nicht mehr nur Staaten, sondern auch Individuen sowie "organisierte politische Gebilde in einer globalen Zivilgesellschaft" als Rechtssubjekte kennen (27). Benhabib sieht in der Unterwerfung nationalstaatlicher Souveränität unter kosmopolitische Normen einen "der vielversprechendsten Aspekte der politischen Globalisierungsprozesse unserer Zeit" (33). Die überlappenden globalen und regionalen Ordnungen hätten ein komplexes System von Interdependenzen hervorgebracht, das, wie sie treffend anmerkt, all diejenigen unterschätzten, die ausschließlich die ökonomische Determination einer Weltwirtschaftsverfassung erblickten.
Zugleich entsteht aus diskursethischer Perspektive ein Dilemma: demokratische Legitimität entsteht in nationalen Rechtsetzungsprozessen, die aber nicht in der Lage sind, die Grenzen der Zugehörigkeit zu ihnen wiederum selbst demokratisch zu  bestimmen (41). Hierbei hat Verf. v.a. die transnationale Migration vor Augen. Der demokratische Souverän könne sich allerdings auf "Akte refl exiver Selbstkonstitution" einlassen (42), in denen die Beziehung von Zugehörigkeit, Demokratie und territorialem Aufenthalt unter der doppelten Verpfl ichtung auf kosmopolitische Menschenrechte und demokratische Selbstbestimmung neu ausgehandelt werde. Ihre Verfahrensvorschläge heißen: "demokratische Iterationen" und "jurisgenerative Politik". Gemeint sind damit Verfahren, in denen ein öffentlicher Raum entsteht, in dem Normen durchlässig werden für neue semantische Kontexte: In demokratischen Prozessen eignet sich ein Volk die nationalen Normen an und interpretiert sie durch eine verschiebende Wiederholung, also Iteration, neu, im Lichte kosmopolitischer Normen (47). Schließlich seien wir in der "politischen Entwicklung menschlicher Gemeinwesen" an einem Punkt angekommen, "an dem das unitarische Modell der (Staats-)Bürgerschaft [...] an ein Ende kommt" (43). Kollektive Identität, politische Zugehörigkeit und soziale Rechte hätten sich längst voneinander gelöst, am weitesten fortgeschritten in der Unionsbürgerschaft der EU. Einzig die Situation für Fremde ohne Papiere und Flüchtlinge verbleibe "in dem trüben Bereich zwischen Legalität und Illegalität" (44).


Der Kosmopolitismus ist tief in einen eurozentrischen Diskurs eingebettet, der vom Kolonialismus schweigt und stattdessen eine aufgeklärte Geisteshaltung weißer Bildungsbürger oder die Praxis der transnationalen Managerklasse verallgemeinert. Benhabib hat einen "anderen Kosmopolitismus" (so der Titel der Originalausgabe) vor Augen. Ihre Texte sind als Versuch einer theoretischen De-Nationalisierung zu verstehen, deren Chancen sie im Prozess transnationaler Verrechtlichung entdeckt. In der Diskussion mit Bonnie Honig wird sie aus einer poststrukturalistischen Perspektive für ihr progressives Zeitlichkeitskonzept kritisiert (100), das es Benhabib verunmögliche, die noch nicht von kosmopolitischen Normen eingefangenen Phänomene in den "trüben Bereichen" als Produkte genau jener neu sich herausbildenden Ordnung zu begreifen. Sie verkenne, dass nationalstaatliche Souveränität zwar eingehegt werde, zugleich jedoch "Souveränität im Begriff ist, neu aufgerichtet und in etwas vollkommen Neues transformiert zu werden" (104). Honig hat hier Recht: Parallel zu den erkämpften Menschenrechtsnormen entsteht das neokoloniale europäische Grenzregime. Während die Rechte im Innern tatsächlich de-nationalisiert werden, entsteht gleichursprünglich ein rechtloses gefährliches Außen der biopolitischen Lager und des europäischen Polizeistaats anstelle des wirklich kosmopolitischen Rechts, seinen Platz in der Welt selbst zu bestimmen. Benhabibs Fokus liegt auf der Zähmung der europäischen Nationalstaaten - und so übersieht sie, dass mit der EU längst ein neues, gewaltiges Staatsapparate-Ensemble entstanden ist. Dies entgeht ihr auch deswegen, weil der neokantianische Staatsbegriff genau jene verselbständigte Staatsapparatur, die Kennzeichen des durchgesetzten kapitalistischen Staates ist, mit dem kontrafaktischen republikanischen Ideal der frühbürgerlichen Aufklärung verwechselt: der Identität von Staat und dem unter Rechtsgesetzen versammelten Volk. In ihrer Replik auf Honig wird das deutlich: Betrachte man den Staat als Apparat, verwandelten sich "die Bürger in Objekte staatlicher Verwaltung, Kontrolle, Disziplinierung und Normalisierung " und bleibe "eine rettende Dialektik innerhalb [...] der politischen Institutionen natürlich unvorstellbar" (145). Wie wäre es statt "rettender Dialektik" mit gegenhegemonialen Iterationen?
Sonja Buckel

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 655-656