Kame Anthony Appiah: Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München 2009. 222 S.

Der hier entwickelte Kosmopolitismus grenzt sich einerseits gegen einen abstrakten Universalismus ab, der die Probleme partikularer Identitäten ausblendet, andererseits gegen kulturalistischen Relativismus und folkloristisches Interesse an "exotischen" Kulturen. Verf. will weder "Patriotismus zerstören oder ›wirkliche‹ von ›unwirklichen‹ Loyalitäten scheiden" noch "Verschiedenheit feiern" (The Ethics of Identity, Princeton 2005, 222). Seine Begriffsentwicklung geht vom einzelnen konkreten Menschen aus, der als Subjekt und Objekt grenzüberschreitender moralischer Verpflichtungen vorgestellt wird.

Deren Begründung beruht auf der Annahme universeller Werte, die Verf. gegen einen "positivistischen" Relativismus verteidigt (44) - ohne allerdings "sicher" zu sein, "dass wir sie bereits besäßen" (174). Als Ergebnis eines "sozialen Konsenses" und als "Mittel, unsere Reaktionen auf die Welt untereinander abzustimmen" (52), seien Werte jeweils an konkrete Gemeinschaften gebunden und demnach zunächst "lokale Werte". Allerdings habe es historisch schon immer einen interkulturellen Austausch gegeben und damit ein gewisses Maß an "kosmopolitischer Verunreinigung" (139). Kosmopolitisches Handeln sei also keineswegs eine "erhabene Fähigkeit" (17), sondern fi nde alltäglich statt. So gebe es zwischen allen Kulturen und Lebensweisen sowohl auf der normativen, als auch auf der alltäglich-praktischen Ebene vielfache Anknüpfungspunkte, die auf die Existenz universeller Werte schließen ließen. "Lokale Werte" sind der jeweils "ganz spezifi sche" Ausdruck "›dünner‹ universeller Werte" (73). Die Annahme, "dass es im Wortschatz der wertenden Sprachen aller Kulturen ausreichende Überschneidungen gibt, um den Beginn eines Gesprächs zu ermöglichen" (82), bildet den Ausgangspunkt dafür, "kosmopolitisches Engagement" als "ein moralisches Gespräch zwischen Menschen aus verschiedenen Gesellschaften" zu fassen (69). Auf Grundlage einer "gemeinsamen Wertesprache" könne es zu "gemeinsamen Reaktionen" führen (54). Bei Meinungsverschiedenheiten" (69) könne versucht werden, "Übereinstimmungen hinsichtlich praktischer Fragen zu erzielen" (95), da sich "Menschen vielfach nicht durch prinzipielle Argumente oder eine lange Diskussion über Werte" (100) überzeugen ließen. Gespräch sei demnach eher als "Metapher für das Bemühen" zu verstehen, "sich auf die Erfahrungen und Ideen anderer Menschen einzulassen" (113). Das dabei gezeigte Interesse an den jeweilig gelebten Werten soll in erster Linie helfen, "uns aneinander zu gewöhnen" (105).
Spätestens hier beginnen die Schwierigkeiten. Erstens wird die Möglichkeit des "kosmopolitischen Gesprächs" zirkulär begründet: Die gemeinsame "Wertesprache", ohne die kein kosmopolitisches Gespräch zustande kommt, kann nicht argumentativ  herausgebildet werden. Verf. versucht daher den Umweg über "praktische Gemeinsamkeiten" als Anknüpfungspunkte für ein Gespräch. Alltagshandlungen sind seiner Theorie zufolge aber immer schon "Reaktionen auf Werte". Verf. löst diesen Zirkelschluss auf, indem er die Existenz von normativen und praktischen Gemeinsamkeiten einfach behauptet. Ihre Herkunft bleibt im Dunkeln.
Zweitens verstellt die Metapher des "Gesprächs" den Blick auf dessen Rahmenbedingungen. Weltbürgertum sieht Appiah schon dann verwirklicht, wenn sich die Menschen individuell auf den jeweils Fremden einlassen. Es wird damit zu einer Frage der moralischen Haltung. Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aber das Handeln und die soziale Position der hier autonom gedachten Individuen mitbestimmen, bleibt unberücksichtigt. Mit diesem methodologischen Individualismus geht drittens einher, dass vom Handeln einer konkreten Person auf eine Berechtigung von Lebensweisen geschlossen wird. Lebensweisen seien nur so lange erhaltenswert, wie sie "ökonomisch [...] tragfähig" (130) sind. Die globale Migration versteht Verf. nicht als Resultat ökonomischer und politischer Notlagen, sondern als Ausdruck des massenhaften Wunsches, der jeweiligen Lebensweise zu entfl iehen: "Wenn wir ein breites Spektrum menschlicher Lebensweisen bewahren wollen [...], ist kein Platz für den Versuch, Vielfalt zu erzwingen, indem man Menschen in einer Form von Andersartigkeit gefangen hält, aus der sie selbst entkommen möchten." (132) An dieser Stelle tritt die ökonomische Vernunft durch die Hintertür in die moralische Betrachtung von Weltbürgertum ein. Dem Flüchtling oder arbeitssuchenden Migranten, dessen "moralischen Status" (Ethics of Identity, 2005, 219) Verf. durch seine Theorie des Kosmopolitismus klären will, ist damit zudem wenig geholfen, denn ein solcher Status kann nicht effektiv eingefordert werden. Eine (menschen-)rechtliche Fassung dieses Status lehnt Verf. jedoch ab. Damit verfehlt er eine entscheidende Problemstellung des Kosmopolitismus, nämlich die Stellung derjenigen zu klären, deren Rechte durch keinen Nationalstaat garantiert werden. Die gesellschaftliche, rechtliche und politische "Einbeziehung des Anderen" (Habermas) obliegt in dieser schönen kosmopolitischen Welt allein der Empathie und dem moralischen Empfi nden, das den Migranten, Flüchtlingen oder auf andere Weise Ausgeschlossenen gegenüber an den Tag gelegt wird. Kosmopolitismus erscheint so als die individuelle Entfaltung derjenigen, die erstens bestimmte, hier als universal gesetzte, v.a. wohl westlich-liberale Werte teilen; die zweitens die materiellen Möglichkeiten haben, sich in einen interkulturellen Austausch zu begeben; und die drittens einem hegemonialen Menschenbild zuzurechnen und somit überall als Gesprächspartner anerkannt sind. Gesellschaftliche Konflikte, ökonomische und herrschaftliche Interessen, die einer umfassenden kosmopolitischen Anerkennung von "Fremden" zuwiderlaufen, blendet dieser Begriff von Kosmopolitismus aus.
Armin Kuhn

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 660-661