Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson u. Vassilis Tsianos: Escape Routes. Control and Subversion in the 21st Century. London u. Ann Arbor, MI 2008. 300 S.

Der zentrale Anspruch dieses Buches besteht in einer Neuorientierung linker, subversiver Strategie. Sie soll zumal in der Abwendung von den Großereignissen bestehen, nicht zuletzt von der als punktuelles Ereignis gedachten „Revolution“, auf die linke Politik über „ein Großteil des politischen Denkens des 20. Jahrhunderts“ fixiert gewesen sei (xii). An ihre Stelle soll „kontinuierlicher Wandel“, bezeugt durch
„kontinuierliche Erfahrung“ (passim) treten.

Subversion gilt vor allem dem eingangs ausgemachten „Doppel-RAxiom“ (bes. 3ff): der Verknüpfung von „Recht“ und „Repräsentation“ im modernen Konzept der Souveränität. Diese vielleicht anregendste Überlegung des sehr viele Themenkomplexe ansprechenden Buches verweist zum einen auf den Kampf um bürgerliche und soziale Rechte, auch durch soziale Bewegungen und zum anderen auf die Repräsentation nicht zuletzt identitär gefasster Gruppierungen. Im 20. Jahrhundert – das natürlich nicht das einzige war, in dem über Revolution nachgedacht wurde (die auch nicht immer als punktuelles Ereignis oder Putsch gefasst wurde) – habe sich das Schwergewicht hin zur Repräsentation verlagert. Dies sei nicht zuletzt Ausdruck der Vereinnahmung der Bewegungen und Ausbruchsversuche, die im „Globalen Nordatlantik“ (passim) zunächst für Rechte, danach für adäquate Vertretung und Darstellung auch in staatlichen Institutionen stritten. Die beständige Vereinnahmung solcher Anstrengungen und Impulse (man vermisst Herbert Marcuses Entsublimierung) erfolge durch die Neuformierung von Herrschaftsregimen: auf transnationale Governance, die der neoliberalen Hegemonie seit den 1970er Jahren entsprochen habe, folgen demzufolge „postliberale Aggregate“ (bes. 25ff), in denen ausgehend von den in der voraufgegangenen Phase vorherrschenden Netzwerken vertikale Konglomerate zwischen einzelnen staatlichen Strukturen, Wirtschaftsunternehmen und auch zivilgesellschaftlichen Akteuren dominieren. Das einzige im Buch angeführte Beispiel hierfür betrifft die komplexe Auseinandersetzung zwischen dem indonesischen Staat, der Weltgesundheitsorganisation und der Pharmaindustrie um Erreger der Vogelgrippe, die für die – potentiell profi table – Herstellung von Impfstoffen unverzichtbar sind und nur in Regionen beschafft werden können, wo die Krankheit tatsächlich auf Menschen übergegriffen hat.
Der Neuformierung von Souveränität und Regimen steht der „Ausbruch“ gegenüber, der als Lebensfreude und geradezu Vergnügen präsentiert und bis auf die Vagabunden des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit zurückgeführt wird. Sie, ebenso wie die Piraten und Maroon-Gemeinschaften entlaufener Sklaven im Amerika des 17./18. Jahrhunderts, erscheinen als Gewährsleute für die fortgesetzte Tendenz, sich zu entziehen, in allererster Linie der sehr pauschal bezeichneten Arbeit. Lohnarbeit wird dann als ein neues Regime verstanden, das darauf ausgeht, die fl üchtigen Arbeitskräfte wieder unter Kontrolle zu bringen. Generell ist das Buch mosaikartig strukturiert, häufig ersetzen Abbildungen von Kunstwerken oder Bauten und die damit verknüpften Assoziationen eine striktere Gedankenführung.
Die Grunddisposition wird im zweiten Teil des Buches anhand der großen Themenfelder „Leben“, „Migration“ und „Prekarität“ durchgespielt. Vor allem hier geht mir einiges erheblich zu schnell, und ich fühle mich an die alte Devise erinnert: multum, non multa! – viel gern, doch nicht Vielerlei! Da geht es von der Lebensphilosophie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts schnell mal zu deren Adaption weniger
durch den NS (wie beim nicht erwähnten Lukács), als vielmehr durch Futurismus und italienischen Faschismus (der russische Futurismus mit dem berühmten Plan eines Bakunin-Denkmals hätte einen interessanten Kontrapunkt gesetzt) – und plötzlich sind wir bei den öffentlichen Auseinandersetzungen Sterbenskranker mit der Apparate-Medizin. Wie genau und was im Einzelnen welcher dieser ja teilweise milde gesagt sensiblen Zusammenhänge mit „Ausbruch“ zu tun hat, bleibt im Unklaren – allenfalls bis auf das letzte Beispiel, wo es immerhin um Protest und Sich-Entziehen geht. Migration, das wohl klassische Thema der post-operaistischen multitude-Diskussion , wird zwar an Einzelschicksalen illustriert, die an der ägäischen Grenze des Schengen-Raums zur Türkei erhoben wurden; die Annahme, es handele sich um einen unaufhaltsam Prozess, der von einem unbändigen Drang (ja, nach was denn?) vieler Individuen getrieben werde, wird an keiner Stelle belegt – es sei denn durch die wiederholte Versicherung, die Interviewpartner, bereits bei verschiedenen Versuchen gescheitert, ins Schengenland zu gelangen, würden es bestimmt immer wieder versuchen. Beim Prekariat wird es vollends romantisch. Die „Leute“ haben sich dieser Lesart zufolge aus den relativen und problematischen Sicherheiten des fordistischen Regimes „zurückgezogen“ (236) – keine Rede vom Sozialabbau. Es kommt zur „Feminisierung der Arbeit … in Teilen durch die Inkorporation der Reproduktionsarbeit in den fordistischen Produktionsprozess“ (227) – als ob nicht ein zentrales Ergebnis der Debatten um Subsistenz- und Hausarbeit darin bestanden hätte, dass diese immer schon Teil des Produktionsprozesses war, freilich so wenig anerkannt wie nun auch hier auf dem Weg zu irgendwelchen „Ausbrüchen“. Körperlichkeit wird hier in einem Ausmaß hypostasiert, dass sich die Frage von Brechts lesendem Arbeiter aufdrängt, ob Caesar bei der Eroberung Galliens nicht wenigstens einen Koch dabei gehabt habe – denn danach, wovon die aus der Lohnarbeit ausziehenden „Leute“ und ihre Kinder denn abbeißen sollen, wird nicht gefragt. Marx formulierte immerhin die Einsicht, ungeachtet der von ihm postulierten welthistorischen Mission der Klasse sei es dennoch ein Pech, Proletarier zu sein. Das Gerede vom „Ausbruch“ dagegen ist trotz des zuweilen formulierten materialistischen Anspruchs weit davon entfernt, die höchstens scheinbar banalen Probleme der Reproduktion jener Körper wahr- oder gar ernstzunehmen, die dann Gegenstand oder auch Subjekt von Politik (wenn auch „unsichtbarer“, passim) werden. Vielleicht wäre eine genauere Lektüre hilfreich gewesen. Die Pauschalverweise auf Werke von 800 oder 1500 Seiten unterstreichen den Eindruck eines eher hastigen Verfahrens.


Schließlich: Ein faktisch auf Europa und allzu oft auch allein auf Deutschland fi xierter Blick ist schwerlich geeignet, gegenwärtige gesellschaftliche Prozesse zu erfassen und zu verstehen. Allein die bescheidene Frage, wo die Migrantinnen und Migranten denn herkommen, die auf den Kanaren oder den griechischen Ägäis-Inseln landen oder im Meer ertrinken, und was sie wirklich zu ihren gefahrvollen Unternehmungen motiviert hat, hätte auf andere, vielleicht letztlich komplexere Probleme geführt – ganz zu schweigen davon, dass das Migrationsgeschehen der Gegenwart nicht zu verstehen ist, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass die Flüchtlingsmassen in ihrer übergroßen Mehrheit nicht in den „Globalen Nordatlanktik“ strömen, sondern beispielsweise in Lagern in der Demokratischen Republik Kongo zu fi nden sind. Ebenso lassen sich Überlebensstrategien zwischen informellem Sektor und globalisierter Kriminalität rein formal zwar als fortgesetzter Verstoß gegen staatlich gesetzte Normen verstehen, doch bestenfalls mit größten  Anstrengungen der Perspektive eines letztlich doch irgendwie kreativ gedachten „Ausbruchs“ zurechnen. Solche Anstrengungen ernsthaft, d.h. argumentativ zu unternehmen wäre aber das Mindeste gewesen. Eine Vorstellung, gegen welche Verhältnisse da anzuargumentieren wäre (würden die Verhältnisse denn ernstgenommen), vermittelt Günter Wallraffs neueste Reportage im Zeit-Magazin 2009/11, „Unter Null“, über Obdachlose in deutschen Großstädten zur Jahreswende 2008/09.
Ouvrions la fenêtre, camarades!
Reinhart Kößler

 

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 116, S. 123-125