Stadt Zürich, Amt für Hochbauten und Liegenschaftenverwaltung (Hg.) 2008: Wohnsiedlung Werdwies. Städtische Peripherie als urbaner Lebensraum. Sulgen/Zürich. 96 S.
Die Autoren der Publikation «Wohnsiedlung Werdwies» würden sich wohl zusammen mit dem Bauträger, der Stadt Zürich, dagegen verwahren, dass es sich bei diesem «Ersatzneubau» um einen Fall von Gentrification handle. Stolz verweisen sie auf die nationale und internationale Anerkennung, die das Projekt mit der Auszeichnung «Umsicht» des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverbands SIA 2006 und mit der internationalen Preiskrönung «Best Architects 2008» erfahren hat.
Gleichwohl: Auf den ersten Blick treffen alle Merkmale jenes Vorgangs zu, der in der Wissenschaft als Gentrification bezeichnet wird. Eine 1959 hastig hochgezogene Siedlung mit 267 Wohnungen am Stadtrand von Zürich verkommt über die Jahre. Sie wird innerhalb von zwei Jahrzehnten zum Sammelpunkt der A-People, der Armen, Ausgestossenen, Alleinerziehenden, Ausländer, Abhängigen, die sich eine bessere Wohnsituation nicht leisten können. Vandalismus, hohe Kriminalitätsrate, mehr Krach als Wonne, Tristesse. Für Zürich wird die Siedlung, damals noch als «Wohnsiedlung Bernerstrasse », zum Symbol für Stadtniedergang. Zu diesem Thema dreht dort Fredi Murer in den 1970er Jahren den Film «Grauzone». Zwanzig Jahre später beginnen die Verantwortlichen der Stadt mit Überlegungen zur «Aufwertung», «Sanierung», «Renovation », und sie kommen zum Schluss: Nur ein «Ersatzneubau» – so unschön das Wort auch klingt – bringt die Lösung. Also: 2001 Architekturwettbewerb, 2003 Kündigung aller Mietverhältnisse, 2004 Abbruch der «Siedlung Bernerstrasse» und Neubaubeginn der «Siedlung Werdwies». Zwischen April 2006 und August 2007 etappenweiser Bezug der neuen Wohnungen, in die nur wenige der ehemaligen Bewohner einziehen. Vor allem junge Familien ziehen ein. Alles ist anders: eine neue Bevölkerung, Architektur hoher Qualität, vorbildliche Landschaftsgestaltung, attraktive Kunst-am-Bau-Werke. Der Ort hat Veredelung erfahren. So weit wäre das genau der Inhalt von Gentrification.
Der Begriff ist für viele, für die meisten, negativ besetzt, weil in vielen Fällen, den meisten – in London, in Schanghai, in den Favelas von Rio –, die Veredelung auf der Rückseite der Medaille eine Vertreibung der bisherigen Bewohner bedeutete, eine Vertreibung ins Ungewisse, in noch schlimmere Verelendung, wenn nicht gar Obdachlosigkeit. Und an dieser Stelle sind wir beim grossen Unterschied angelangt: Genau diese Vertreibung ist beim Zürcher Beispiel «Werdwies» nicht geschehen. Darum erlaube ich mir den Begriff Gentrification light oder sanfte Gentrifizierung.
Welche Mittel haben dazu verholfen, die negative Auswirkung des Veredelungs-Vorgangs zu verhüten. Das eine ist frühzeitige Information der Betroffenen an Mieterversammlungen, das andere die Einrichtung eines «MieterInnenbüros» bereits im Jahre 2001, als der Architekturwettbewerb erst ausgelobt war. Dieses Büro bot den Bewohnern aktive Unterstützung bei der Suche nach einer anderen Bleibe an, die ihren je unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprach. Die Stadt machte allen individuell zugeschnittene Angebote, wobei es ihr zugute kam, dass rund 50 000 Wohnungen in der Stadt oder rund ein Viertel des gesamten Bestandes gemeinnützig sind, d. h. entweder im Besitz der Stadt selbst oder in der Bewirtschaftung von Baugenossenschaften. Jedenfalls konnten innerhalb von zwei Jahren, bis Ende 2003 für alle Mieterinnen und Mieter ein Ersatz gefunden werden, und zwar in aller Regel verbunden mit einer Verbesserung der Wohnsituation. Vor allem dies macht den «Ersatzneubau Werdwies» zu einem Vorbild. Und weiter hebt sich das Beispiel von anderen dadurch ab, dass im Ergebnis wieder Sozialwohnungen zu moderaten Preisen (rund 30 Prozent unter den marktüblichen) entstanden sind, also alles andere als ein Ghetto der «besitzenden Stände» – eine weitere Bedeutung des Begriffs gentry.
Die Publikation weiss noch weitere Vorzüge herauszustreichen: die ökologisch vorbildliche Bauweise; die Wiederverwertung des Abbruchmaterials zu 91 Prozent (darum soll bitte «Rückbau» und nicht «Abbruch» gesagt werden); Wohnungsgrundrisse nach dem «gutbürgerlichen Zuschnitt der Jahrhundertwende» mit grossem Entrée, von dem rundum die Zimmer abgehen. Hervorgehoben wird auch zu Recht die sorgfältige Gestaltung des Übergangs: Damit die Siedlung nach Auszug vieler Mieter nicht zur Geisterstadt verkomme, wurden die leeren Wohnungen Zwischennutzern angeboten und in der letzten Phase ein Kunstprojekt initiiert, das dem ganzen Geschehen noch den Touch einer Performance verlieh. Alles wird in der Publikation haarklein beschrieben und auch bildlich schön und informativ dargestellt.
Rudolf Schilling