Gurminder K. Bhambra: Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination. Basingstoke 2009. 200 S.
Postkoloniale Theorie scheint nur schleppend Eingang in die Soziologie zu finden. Ein Grund für diese zaghafte Rezeption bildet zugleich den Fokus dieses Buches, das eine solche Auseinandersetzung in Angriff nimmt: die enge Verschränktheit der Disziplin mit der Moderne - und damit auch mit Kolonialismus. Dass Kolonialismus nicht ein Nebeneffekt, sondern konstitutiv für die Moderne ist, stellt ein zentrales Argument postkolonialer Ansätze dar. Welche Konsequenzen hat es für die Sozialwissenschaften, wenn wir die Moderne im Zusammenhang von Kolonialismus begreifen und einer Kritik aus postkolonialer Perspektive unterziehen?
Verf. schlägt nicht nur eine erneute Auseinandersetzung mit der Moderne und der Entstehung der Sozialwissenschaften vor, sondern damit einhergehend auch eine Restrukturierung der Konzepte, mit denen wir Gesellschaft begreifen. Wie die feministische Kritik impliziert die postkoloniale also eine epistemologische Herausforderung für die Sozialwissenschaften. In postkolonialen Ansätzen, welche die Beziehung zwischen Theorie und Geschichte betonen, steht die epistemologische Intervention im Zusammenhang der Entwicklung alternativer Historiographien. In diesem Sinne plädiert Bhambra für eine nicht-eurozentrische Historiographie der Moderne und der Sozialwissenschaften. Unter Eurozentrismus versteht sie "the belief, implicit or otherwise, in the world historical signifi cance of events believed to have developed endogenously within the cultural-geographic sphere of Europe" (5). Theorien der Moderne seien insofern eurozentrisch, als sie - bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassungen der Aufklärer, der ›Klassiker der Soziologie‹ und aktueller Konzeptionen wie jener von Wagner, Giddens, Habermas oder Taylor - alle auf der Idee eines zeitlichen Bruchs und einer fundamentalen Differenz zu einem ›Anderen‹ basieren, als das meist ›traditionelle‹ oder ›vormoderne‹ Gesellschaften konstruiert werden. Unter umgekehrten Vorzeichen bleiben Verf. zufolge auch postkoloniale Positionen einer eurozentrischen Perspektive verhaftet, wenn sie den Westen oder Europa als negative Kontrastfolie heranziehen und damit dessen Zentralität untermauern. Verf. folgt im Unterschied dazu Sanjay Subrahmanyams Konzept der "connected histories", das unterschiedliche Positionen in den Blick nimmt und durch die methodologische Verschiebung auf deren komplexe Beziehungen eine Reifi kation der verbundenen Einheiten - "Europa", der "Westen", der "Orient", die "Nation" - vermeidet. So sollen nicht nur vorherrschende Erzählungen der Moderne als westlich und Europas als geschlossene Einheit dekonstruiert, sondern gleichzeitig verschiedene Perspektiven in Bezug auf die Rekonstruktion theoretischer Kategorien und die Aufnahme neuer Informationen systematisch abgestimmt werden.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, der erste stellt die Historiographie der Soziologie, der zweite die Dekonstruktion eurozentrischer Konzeptionen der Moderne in den Mittelpunkt. In den ersten beiden Kapiteln thematisiert Verf. nicht nur die Abwesenheit kolonialer Erfahrungen in der Geschichtsschreibung der Sozialwissenschaften, sondern argumentiert, dass diese Abwesenheit in die "soziologische Denkweise" (C. Wright Mills), welche auch den Titel des Buches inspiriert hat, eingeschrieben ist. Die Vorstellung von Geschichte als Fortschritt in verschiedenen Stadien sei zentral für die Herausbildung dieser Denkweise in der Aufklärung, die das Soziale als wissenschaftlichen Untersuchungsbereich konstituierte. Geschichte stellte dabei den universellen Rahmen für eine vergleichende Untersuchung sozialer Unterschiede bereit, welche nunmehr historisch verortet wurden. Differenzen wurden also entweder als abweichend von dem universellen Ordnungsschema (und damit universeller Menschheit) ausgeschlossen oder als transitorisch behandelt und in dem ›Anderen‹ die ›eigene‹ Geschichte (v)erkannt. Einher ging damit eine Konzeption des Sozialen als geschlossene Einheit und des sozialen Wandels als interner Prozess, der unabhängig von externen Beziehungen zu begreifen ist. Dies kennzeichnet auch soziologische Theorien der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg, denen das dritte Kapitel gewidmet ist. Verf. argumentiert, dass auch Ansätze, die eine "Vielfalt der Moderne" (Shmuel N. Eisenstadt) konstatieren, eurozentrisch bleiben, insofern sie von einem europäischen ›Original‹ ausgehen, das in der Welt verbreitet und kulturell unterschiedlich interpretiert wurde. In der Bestimmung des Modernen (im ›Original‹) bleiben koloniale Beziehungen und ›andere‹ Erfahrungen allerdings ausgeblendet.
Im zweiten Teil setzt sich Verf. mit drei (vermeintlichen) historischen Schlüsselereignissen auseinander, die üblicherweise als konstitutiv für die Moderne gesehen werden: Renaissance, Französische Revolution und Industrielle Revolution. Sie folgt hier den im ersten Teil in kritischer Diskussion eurozentrischer Historiographien eingeführten methodologischen Überlegungen, um die mit diesen Ereignissen zusammenhängenden ›Mythen‹ europäischer kultureller Integrität, des modernen Nationalstaats und des industriellen Kapitalismus zu dekonstruieren und mit Fokus auf koloniale Beziehungen und Abhängigkeiten zu restrukturieren.
Überzeugend und nachvollziehbar präsentiert Verf. ihr zentrales Argument, dass die Konzepte der Soziologie von einem bestimmten historischen Verständnis geprägt sind und wir daher dieses Verständnis zusammen mit den Konzepten aus postkolonialer Perspektive überdenken müssen, um auch gegenwärtige soziale Verhältnisse angemessener zu begreifen. Eine kosmopolitische Soziologie, die dies leisten kann, ist laut Bhambra daher eine "that ›provincialized‹ European understandings" (154).
Iris Mendel