Kai-William Boldt und Martina Gelhar: Das Ruhrgebiet. Landschaft, Industrie, Kultur. Darmstadt 2008. 168 S.

Wer als Geograph eine Monographie zum Ruhrgebiet in die Hände bekommt, wird sich an das dreibändige Werk 1) von Hans Spethmann „Das Ruhrgebiet im Wechselspiel von Land und Leuten, Wirtschaft, Technik und Politik (Berlin, 1933) erinnern, in dem er seine grundlegende Kritik von 1928ff. an der länderkundlichen Praxis Hettnerscher Prägung, die unter dem Schlagwort „Dynamische Länderkunde“ in die Forschungsgeschichte eingegangen ist, ideal umgesetzt sehen wollte.

Ohne darauf einzugehen, ob Spethmann seinen eigenen Ansprüchen mit diesem Werk gerecht wurde (er selbst zählte mehr als 80 Rezensionen dazu), so sollen die konzeptionellen Aspekte Spethmanns als fachspezifischer Hintergrunddiskurs für das hier zu besprechende Buch kurz reflektiert werden. Spethmann hatte die Überwindung des statischen und additiven Ansatzes des weithin verwandten „länderkundlichen Schemas“ gefordert, da das nicht selten zur Auflistung von Fakten führe, ohne dass die vorherrschenden Wesensmerkmale eines Erdraums sichtbar würden. Außerdem sei das menschliche Einwirken auf einen Raum stärker zu berücksichtigen als die morphologischen Gegebenheiten. Auch eine genetische Darstellung genügte ihm alleine nicht, da die Gegenwart Werdendes sei und ebenso in steter Umbildung begriffen. Vielmehr sei das prozesshafte Zusammenspiel von materiellen und immateriellen Sachverhalten herauszuarbeiten, und zwar „im Wechselspiel von Land und Leuten, Wirtschaft, Technik und Verkehr“, wie er im Untertitel seines Buches formuliert. 2)
Auch wenn Ute Wardenga 3) herausarbeitete, dass Spethmanns Kritik an Hettner auch von „karrieretechnischen“ Aspekten bestimmt wurde, so sind dennoch mit seinen Überlegungen wesentliche konzeptionelle Fragen einer aktuellen Landeskunde zum Ruhrgebiet angeschnitten, geht es doch damals wie heute um eine hochkomplexe Kernregion Deutschlands, die es in einer „modernen regionalen Geographie“ (so die Autoren)  darzustellen gilt. Konnte Spethmann das Ruhrgebiet gleichsam auf dem Höhepunkt seiner industriellen Entwicklung erfassen, so mussten Boldt und Gelhar neben dem Industrialisierungsprozess auch den Deindustrialisierungsprozess seit den 1960er Jahren sowie den folgenden postindustriellen Umbau der Region einbeziehen. Sie konnten sich dabei nicht auf mehreren hundert Seiten in drei Bänden wie Spethmann ausbreiten, sondern mussten ihre Ausführungen ungleich stärker als Spethmann zuspitzen, denn ihnen standen nur gut 170 Seiten zur Verfügung. In leichtem Fachchinesisch – die werten Fachkollegen und -kolleginnen mit ihren oft dezidierten Vorstellungen zu Theorie, Praxis und Wert landeskundlichen Arbeitens sieht man ihnen beim Schreiben gleichsam über die Schultern schauen – formulieren sie ihre Zielsetzungen wie folgt: „Auf der Basis der raumrelevanten Historie und des sektoralen Fachschemas werden aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen von Umwelt und Kultur integrativ (geosystemar) diskutiert – mit dem Ziel, nachhaltige Leitbilder und Lösungen zu motivieren und das Bewusstsein von Fachkollegen, Studierenden und interessierten Lesern für eine Region anzuregen, deren Stärke auch für die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland von entscheidender Bedeutung sein wird“ (S. 7f.). Bei der Konzeption ihres Buches mussten die Autoren zudem die Publikationspolitik der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft beachten, die interessierte Laien als Kunden definiert, da sie erst eine wirtschaftliche Auflagenhöhe garantieren. Der Blick auf einen breiteren Leserkreis erklärt sicherlich die reiche Bebilderung des Bandes, sie spiegelt zugleich aber das Konzept des Bandes trefflich wider: Zum einen werden alle Fotos, die ausschließlich von den Autoren stammen und durchweg aussagestark sind, durch die Angabe der Standorte im Himmelsgradnetz in den Bildunterschriften geographisch-exakt verortet, zum anderen wird darin auch ein dekonstruktivistischer Zugang zur Region sichtbar, denn die Übersichtskarte mit den Standorten der Objekte, die die Fotos abbilden, wird so unterschrieben: „Die Fotos im Buch – symbolische Orte der Ruhrgebietskultur“, und im Nachwort wird sodann hervorgehoben, „dass die Beispiele, die im fachlichen Diskurs von Fotos und der  Interpretation ihrer Symbolgehalte vorgestellt wurden, […] selektiv und natürlich auch subjektiv ausgewählt wurden; sie geben einen Ausschnitt der individuellen Wahrnehmung des komplexen Ruhrgebiets wieder. Damit soll der Leser ganz bewusst angeregt werden, seinen eigenen sense of place im Dreiklang von Landschaft, Industrie und Kultur zu entdecken oder zu entwickeln.“ Hier schreiben also nicht Geographen als Fachleute für das Regionale die einzig denkbare Landeskunde zum Ruhrgebiet, was den eingangs skizzierten Diskussionen um die „richtige“ Landeskunde für uns Heutige einiges an Schärfe nimmt, sondern es wird im Sinne eines postmodernen Wissenschaftsverständnisses, in dem Konstruktivismus und Diskursanalyse Leitprinzipien sind, eine Variante von etlichen möglichen Landeskunden vorgelegt.
Die erwähnte Karte zeigt dennoch einen Minimalkonsens darüber, was den räumlichen Kern des Ruhrgebiets ausmacht. Auch wenn die Autoren aus pragmatischen Gründen das Gebiet des Kommunalverbandes Ruhr in Karten und Statistiken als „Ruhrgebiet“ umreißen und damit bis an den Niederrhein ausgreifen, so stammen die meisten Fotos doch aus dem Raum zwischen Ruhr und Emscher, der sowohl in der Außen- wie in der Fremdwahrnehmung für gewöhnlich als das Ruhrgebiet bezeichnet wird. Damit sei ein Raum mit einem spezifischen sense of place erfasst, der in einer „atmosphärischen Ambivalenz von Natur und Industriekultur“ bestehe (S. 125). Aus dieser Ambivalenz erklärt sich sodann das Bemühen der beiden Autoren, die aus den beiden großen Teildisziplinen der Geographie kommen (Kai Boldt aus der Naturgeographie – Martina Gelhar aus der Humangeographie), um eine enge Verbindung naturund humangeographischer Aspekte in der textlichen Darstellung. Das zieht sich das ganze Buch hindurch. Beispielhaft für diesen Zugang werden im ersten Hauptkapitel „Was ist wo warum? Der Naturraum und sein wirtschaftliches Potential“ auf gut 25 Buchseiten durchaus in der Tradition der klassischen länderkundlichen Geographie erst einmal geologisch-morphologische Details dargelegt; es ist aber zu bemerken, dass es letztlich um Fragen der Möglichkeiten und Probleme der industriellen Nutzung der natürlichen Ressourcen geht. Das Bemühen, die Breite der fachlichen Zugänge der Geographie zum Tragen zu bringen, ist auch im Kapitel „Umwelt im Fokus“ zu greifen. Darin werden wirtschaftsgeographische Aspekte des Wandels der energetischen Basis der Region und aus naturgeographischer Sicht Beispiele von „Industrienatur“ angesprochen.
Der Fokus des Buches auf den speziellen sense of place des Ruhrgebiets erklärt auch, warum die oben erwähnte „raumrelevante Historie“ vor allem die Zeit der Industrialisierung seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts meint. Die Überschrift des Kapitels „Der Blick zurück – die Geschichte des industriellen Ruhrgebiets“ ist in diesem Sinne konsequent. Wenn aber für die Epochen von der Steinzeit bis zum Beginn der Industriellen Revolution gerade einmal zwei Doppelseiten bereitgestellt werden, wovon die unteren Seitenhälften noch dazu mit  großformatigen Fotos des Schlosses Lauerfort und der ehemaligen Zisterzienserabtei Kamp gefüllt sind, so werden damit längere Entwicklungslinien der Ressourcennutzung aus der Feudalzeit abgeschnitten, die das Ruhrgebiet bis heute prägen; Spethmann hatte diesen Zeiten trotz seiner Kritik am genetischen Ansatz immerhin noch die erste Hälfte des ersten Bandes gewidmet.
Unbeschadet dieser Kritik wird die Darstellung des Aufstiegs des Ruhrgebiets im 19. Jahrhundert zum größten Industriegebiet Deutschlands sowie sein Niedergang in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg didaktisch sehr geschickt an das Modell der „Langen Wellen wirtschaftlicher Entwicklung“ angelehnt. Das zeigt, wie eingebunden das Ruhrgebiet in globale Prozesse war und ist, so dass Versuche der regionalen
Steuerung des Strukturwandels, wie sie im Kapitel „Der Pott kocht – immer noch“? anschaulich dargestellt werden, immer nur beschränkt wirksam sein konnten; vor allem der ausführlich beschriebene und vergebliche Kampf um Rheinhausen zeigt das sehr deutlich.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Autoren darauf achten, die raumzeitliche Differenzierung der Prozesse von Industrialisierung und Deindustrialisierung herauszuarbeiten. Das gelingt besonders gut rund um ein Flussdiagramm zur Erklärung der Disparitäten zwischen Hellweg- und Emscherzone (S. 59). Solche Kenntnisse sind bedeutsam für die Entwicklung räumlich differenzierter Planungen zur Abfederung des Deindustrialisierungsprozesses und für den differenzierten Umgang mit den persistierenden materiellen und immateriellen Hinterlassenschaften, die ja in der Region ungleich verteilt sind.
Im Sinne eines eher paradigmatischen Ansatzes werden die relevanten Großprojekte des Strukturwandels wie die IBA Emscherpark im Buch nicht nur beschrieben, vielmehr wird aufzuzeigen versucht, inwieweit das Ruhrgebiet allgemein für postindustrielle Raum- und Gesellschaftsentwicklungen stehen kann. Dabei greifen die Autoren auf die jüngeren einschlägigen Diskurse in den raumbezogenen Disziplinen zurück. Das macht das Buch auch als Hinweis auf allgemeine aktuelle Forschungsdiskurse in der Raumplanung und Regionalpolitik für Studenten interessant.
Der im Wesentlichen chronologische Durchgang durch die Geschichte des Ruhrgebiets im 19. und 20. Jahrhundert wird in den letzten Kapiteln ein wenig gebrochen, indem die Leistungen einiger großer Persönlichkeiten wie Alfred Krupp und August Thyssen aus der Hochphase der Industrialisierung herausgestellt werden. Abschließend werden unter dem Stichwort „Ruhrdeutsch“ bekannte Stereotypen zum Ruhrgebiet in einer Mischung von Information und Dekonstruktion erklärt; einen ähnlichen Ansatz findet man in dem ein wenig zu modisch geratenen Rekurs auf die Schauplätze der bekannten Schimanski-Krimis.
All das liest sich sehr gut, die Sprache ist peppig, ohne allzu oft ins gewollt Modische zu überdrehen; hilfreich für den Nichtgeographen sind die knappen Erklärungen von Fachtermini als Randnotizen. Die Bebilderung stammt einzig von den Autoren, was deren intensive „Erfahrung“ des Ruhrgebietes zeigt, und die graphische Gestaltung ist dankenswerter Weise konservativ-dienend. Erfreulich ist zudem, dass das Literaturverzeichnis so umfangreich werden durfte, dass der interessierte Leser die Chance hat, die Quellen des Wissens der Autoren zurückzuverfolgen und einzelne Aspekte durch gezielte Lektüre zu vertiefen.


Mit Blick auf die eingangs angeschnittenen Diskussionen um Fragen der Konzeption einer Landeskunde zum Ruhrgebiet kann man konstatieren, dass Boldt und Gelhar ein Buch vorgelegt haben, das die Entwicklung und den aktuellen Zustand des Ruhrgebiets durchaus aus dem prozesshaften Zusammenspiel von materiellen und immateriellen Sachverhalten erklärt. Wenn Boldt und Gelhar damit eine mehr als 70 Jahre alte Forderung Spethmanns nun in ihrem Buch einlösen, so bedeutet das kein konzeptionelles rollback, sondern ist Ausdruck eines ähnlichen Geographieverständnisses von Spethmann und der beiden Autoren. Sie sehen das Fach offenkundig als Einheit und nutzen die daraus erwachsenden Chancen, eine gut lesbare und vorzüglich bebilderte und dazu problemorientierte Landeskunde von großer sachlicher Breite und hoher Informationsdichte zu schreiben.
Winfried Schenk

Anmerkungen
1) 1995 erschien ein zweibändiger Reprint der Ausgabe von 1933/38 im Umfang von 1050 Seiten im Klartext-Verlag. Er fasst folgende Bände zusammen: Band 1: Von der Vorrömerzeit bis zur Gestaltung eines Reviers in der Mitte des 18. Jahrhunderts; Band 2: Die Entwicklung zum Großrevier seit Mitte des 18. Jahrhunderts; Band 3: Das Ruhrrevier der Gegenwart.
2) Siehe dazu die Einführung „Hans Spethmann und die Geographie – Aspekte einer schwierigen Beziehung“ von Gustav Ihde und Hans-Werner Wehling in dem vorab erwähnten Reprintband, besonders S. XVII.
3) Siehe dazu Wardenga, Ute (1991): Geographie als Chorologie. Zur Genese und Struktur von Alfred Hettners Konstrukt der Geographie. Erdkundliches Wissen 100.
Stuttgart.

 

Quelle: Erdkunde, 63. Jahrgang, 2009, Heft 3, S. 385-387