Joachim Spangenberg (Hg.): Sustainable Development - Past Conflicts and Future Challenges. Taking Stock of the Sustainability Discourse. Münster 2008. 293 S.

Was hieße es, Nachhaltigkeit wirklich ernst zu nehmen? "Substantial sustainability", so schreibt Hg., "extends the scope of responsibility to distant regions and future generations, based on the principles of respecting the Earth's carrying capacity while safeguarding inter- and intragenerational justice. It integrates social, environmental, economic and institutional domains and qualitative demands." (15) Daran anknüpfend plädiert er dafür, die ökonomischen, sozialen und institutionellen Dimensionen von Nachhaltigkeit stärker als bisher zu berücksichtigen und umzusetzen - dies würde auch die Lebenswirklichkeiten nicht-westlicher Gesellschaften besser erfassen können, da z.B. Institutionen stark kulturell geprägt sind.

Im andern Einführungsaufsatz fordern Frieder Otto Wolf und Pia Paust-Lassen eine Verschiebung der Forschungsperspektive: "instead of just looking at official strategies, we have been carried on to look at the entire policy, politics and polity constellation underlying them and conditioning their potential outcomes" (20). Die verbreitete und zunehmende Unzufriedenheit mit Stand und Geschwindigkeit der Umsteuerung in Richtung nachhaltiger Entwicklung - die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist in fast allen Bereichen und Ländern noch kolossal - mache diese Verschiebung nötig. Die dringliche Frage sei, "why it is so difficult to implement sustainability in actually effective politics?" (26). Teilantworten geben sie, indem sie betonen, es sei wichtig "adding the institutional dimension as a concern of parallel significance, while stressing the importance of the plurality of strategies, of the questions of location in time and space, of the historical character of human ecologies, with their central determinant in gender relations" (22).
Der Sammelband ist im Umfeld des EU-Forschungsprojekts "Improvement of sustainability strategy elaboration for economic, environmental and social policy in Europe" (2003-6) entstanden. Sein erster Teil blickt auf verschiedene Hintergründe der Strategiebildung für Nachhaltigkeit zurück. Vier Beiträge erörtern die konzeptionellen Wurzeln des Konzepts (Ulrich Grober), Konfl ikte darum in Lateinamerika (Jane Roddick), Zusammenhänge zwischen Umwelt und Gleichheit (Wolfgang Sachs), und eine über den Johannesburg-Gipfel von 2002 hinausgehende Perspektive (Alain Lipietz). Der zweite Teil ist einer kritischen Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurses und v.a. seiner Defi zite gewidmet. Jill Jäger bemerkt im Bereich der sogenannten "sustainability science" die zunehmende Integration der verschiedenen Dimensionen von Nachhaltigkeit am Beispiel internationaler Wissenschaftsorganisationen wie dem International Council for Science und dem Interacademy Panel of the World's Science Academies. Sie weist v.a. auf notwendige engere Kooperationen zwischen Wissenschaft, Technologie und Entscheidungsträgern hin (170). Sabine Hofmeister und Ines Weller kritisieren die unzureichende Einbeziehung der Gender-Perspektive in die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, wo sie lediglich als "gender equity", nicht jedoch in ihrer systemischen Qualität auftaucht. Darüber hinaus versuchen sie zu zeigen, dass eine umfassendere Gender-Perspektive in der Lage sein könnte, den Nachhaltigkeitsprozess strategisch voranzubringen und substanziell auszuweiten - wenn nicht nur die individuelle, sondern auch die systemische Dimension einbezogen würde, wie es übrigens das Gender-Mainstreaming auch beabsichtige (192). Dies ergebe sich aus den Parallelen: sowohl Gender- als auch Nachhaltigkeitsperspektive werfen ein neues Licht auf das Verhältnis von Produktion und Reproduktion und erkennen deren Verschränkheit an (vgl. z.B. das ›ganzheitliche‹ Denken im Bereich der Ökologie und beim Arbeitsbegriff), indem die traditionelle patriarchal-mechanistische Trennung zwischen Produktion und Reproduktion überwunden wird. Da "gender relations are refl ected in all societal areas, it would make sense to examine gender justice for all subject areas and set goals and create indicators where applicable" (ebd.). Verf. schlagen daher vor, gendersensitive Nachhaltigkeitsziele für infrastrukturelle, technologische, soziale und institutionelle Innovationen z.B. in den Bereichen Arbeit, Ernährung, Mobilität, Hausbau und Bildung zu formulieren und in entsprechende Indikatoren zu übersetzen. Der dritte Teil diskutiert globale Perspektiven nachhaltiger Entwicklung. Hierzu gehören der ökonomische Aspekt der Ausbeutung lokaler Ressourcen in globalen Zusammenhängen (Joan Martinez Alier) und die Gründe für die isolationistisch-eigenwillige Haltung der USA (Jamil Brownson). Tian Shi setzt sich mit der kulturellen Konstruktion des Konzepts "Harmonie" in Bezug auf Nachhaltigkeit in China auseinander. Dieses basiere auf Traditionen des Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus, und unterstreiche die Einheit des gesamten Lebens und des Kosmos. Daraus folgert er: "There is no single pattern of sustainable development applicable to all countries. Instead the question should be framed in terms of which conditions, which historical setting, which group of actors and which cultural  framework are involved." (286) - Das ambitionierte Buch weist kleine Defi zite auf. Der Stil mancher Beiträge ist überkompliziert und holprig (z.B. Sätze über 14 Zeilen) und die Übersetzung lässt stellenweise zu wünschen übrig. Doch es werden zumindest Teilantworten auf die Frage geliefert, weshalb sich Nachhaltigkeit bisher nur schwer in praktische Politik einbeziehen lässt: Die Tiefe der Herausforderung und das Ausmaß der erforderlichen Opposition gegen die herrschenden Missverhältnisse und Gewohnheiten sind noch zu wenig bewusst, so dass folglich noch keine hinreichend wirksame Gegenmacht entstanden ist. Die Forschung hierzu reicht noch nicht aus, das zeigen auch die Beiträge und sind somit selbst Indiz dieses skeptischen Befunds.
Edgar Göll  

 

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 703-704