Robert Schmidt u. Volker Woltersdorff (Hg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Konstanz 2008. 316 S.

In den letzten Jahren mehren sich (auch) im deutschsprachigen wissenschaftlichen Feld Projekte, die mit Griff in den ›Werkzeugkasten‹ der praxeologischen Soziologie Bourdieus empirisch untersuchen, wie symbolische Gewalt in der sozialen Wirklichkeit zur »Aufrechterhaltung und Reproduktion der herrschaftlichen Ordnung« (8) beiträgt.

Im vorliegenden Band wird aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven die Frage diskutiert, wie und weshalb symbolische Gewalt in konkreten Zusammenhängen und Erscheinungsformen so sanft wie zwingend wirkt, worin die schicht- wie kontextabhängigen Verkennungseffekte dieses Reproduktionsmodus sozialer Ordnung liegen, die dazu führen, dass »unerträgliche soziale Existenzbedingungen von denen, die ihnen unterliegen, oft als akzeptabel, natürlich und selbstverständlich erlebt werden« (ebd.), und welche Möglichkeiten von Widerständigkeit in der individuellen Aneignung wie praktischen Handhabung symbolischer Gewalt liegen. Wie Bourdieu verstehen die Autoren das Konzept der symbolischen Gewalt als eine ›Theorie im Prozess‹, deren »Tauglichkeit im Handgemenge mit verschiedensten Gegenständen und aktuellen Kontroversen überprüft« (ebd.), im Aufwerfen neuer Fragen modifiziert und weiterentwickelt wird.
Hg. schlagen einleitend eine sinnvolle begriffl iche Unterscheidung zwischen symbolischer Gewalt (dem praktischen Vollzug gewaltloser Gewalt), symbolischer Macht (der Möglichkeit zur Ausübung symbolischer Gewalt) und symbolischer Herrschaft (den ver- und damit anerkannten Herrschaftsverhältnissen) vor, die sich ungefähr mit den begrifflichen Differenzierungen deckt, die Maja Suderland in ihrem Beitrag (250) entwickelt. Franz Schultheis rekonstruiert anschaulich im ersten, theoretischen Teil des Bandes die Genese des bourdieuschen Konzepts durch Verknüpfung biographischer, wissenschaftsgeschichtlicher und politischer Zusammenhänge. In den weiteren vier Teilen werden mit Blick auf die Felder Bildung/Erziehung, Medien und Literatur,  (postfordistischer) Arbeitsmarkt sowie Staat Ergebnisse empirischer Untersuchungen vorgestellt. Sie belegen einerseits, wie konzeptionell anregend Bourdieus Überlegungen zur symbolischen Gewalt sind und machen andererseits auf notwendige Erweiterungen und Modifikationen seines Ansatzes aufmerksam, wenn es etwa um das Zusammenwirken von Klasse, ›Rasse‹ und/oder Geschlecht in symbolischen Klassifizierungs- und Hierarchisierungsakten geht oder darum, der individuellen und kollektiven affektiven Seite symbolischer Benennung und Anrufung bzw. widerständigem, abweichendem Umgang mit anerkannten Normierungen stärker Rechnung zu tragen.
Einige Beiträge sind hinsichtlich dieser ›Doppelbewegung‹ bzw. wegen ihres empirischen Gehalts besonders anregend. Thomas Alkemeyer und Markus Rieder-Ladich übernehmen Bourdieus Analyse des Staates als souveräner Verwalter des symbolischen Kapitals. Um zu vermeiden, dass der Staat als monolithischer Block erscheint, entwickeln sie eine Forschungsheuristik zur symbolischen Gewalt im pädagogischen Feld. Staatlich regulierte Bildung wird so als umkämpftes Feld erkennbar, in dem »unterschiedliche Formen symbolischer Gewalt« (105) wirksam sind. Verf. plädieren dafür, »den Blick für Details und Konfliktlinien zu schärfen und in der empirischen Analyse von Bildungspraktiken [...] kleinteiliger vorzugehen«, um dem Vor-Urteil eines »vollständig machtgesättigten Raums« zu entgehen (ebd.). Das hieße etwa, nicht lediglich sprachliche Äußerungen zu untersuchen, sondern auch »Körper(praktiken) der beteiligten Akteure und damit zugleich die Architektur und Materialität der Bildung in den Mittelpunkt zu rücken« (107). Für die Erforschung des ›habitus in the making‹ wäre das Zusammenspiel von räumlichen Anordnungen, Artefakten und den Gefühlsregungen der beteiligten Akteure in konkreten, wechselnden Situationen in den Blick zu nehmen, um in Akten von Anerkennung bzw. Abgekoppelt-Werden (verborgene) Machtbeziehungen sichtbar zu machen. Carsten Keller nimmt Bourdieus These auf, dass der physische Raum eine der »Hauptwirkungsstätten symbolischer Macht« (271) sei, weil sich in ihn die Hierarchien des sozialen Raums in naturalisierter, Stein gewordener Form einschreiben, die für die Inkorporierung der Visions- und Divisionsprinzipien der sozialen Welt in besonderer Weise verantwortlich zeichnen. Er zeigt in einem französisch-deutschen Vergleich der staatlichen Interventionspolitik in den Wohnungsbau, wie sich im letzten Drittel des 20. Jh. ein Imagewandel der Großsiedlungen vollzog. Daran lässt sich der Umbau des Sozialstaates und seiner gewandelten Anrufungen der Subjekte, an die sich seine (normierenden) Angebote richten, ablesen. Verf. zeigt, dass »die politischen Kämpfe um die legitime sozialstaatliche Intervention« in den Großsiedlungen nicht nur »ein herausragendes Kräfte- und Defi nitionsfeld « finden (278), sondern auf mikrosozialer Ebene auch ihre symbolische Gewalt dergestalt entfalten, dass sie deren Bewohnern in ihren Kämpfen um Anerkennung bzw. Abgrenzung untereinander und nach außen die Möglichkeit geben, sich in hierarchisierenden Klassifi zierungen auf symbolisches Kapital zu beziehen, »dessen jeweiliger Wert und Legitimität von der staatlichen Defi nitionsmacht mitbestimmt werden« (279) – etwa, wenn sie ›offizielle‹ Stigmatisierungen, die vom ›Plattenbau‹ auf Kriminalität oder Asozialität seiner Bewohner schließen, für ihre internen Rangordnungen übernehmen. Das ist z.B. der Fall, wenn »bestimmte Siedlungsteile und Gruppen [...] in eine freilich umkämpfte Rangfolge gestellt [werden], bei der ›Arbeitslose‹, ›Transferempfänger‹ und ›Ausländer‹ auf den untersten Plätzen rangieren« (281). Loïc Wacquant zeigt auf beklemmende Weise, wie in den USA die in den Gründungsmythos der nordamerikanischen Demokratie eingeschriebene Rassentrennungmomentan »umdefi niert und neu eingesetzt« (290) wird und dabei bes.  Strafgefangene für die Konstruktion des ›Wir‹ und der ›Anderen‹ herhalten müssen. Er zeigt, wie durch Exklusion der (mehrheitlich schwarzen) Strafgefangenen von institutionalisiertem kulturellem Kapital, staatlicher Hilfe und Wahlrecht deren »staatsbürgerlicher Tod« (294) herbeigeführt und auf neue Weise die ›rassische‹ Einteilung der Welt, die er als »staatsbürgerliches Gründungsverbrechen Amerikas« (302) versteht, fortgeschrieben wird. – Insgesamt regen die Beiträge dazu an, einen geschärften Blick für die (verborgenen) Wirkungsweisen symbolischer Gewalt auf alte wie neue Forschungsgegenstände zu richten.
Irene Dölling

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 831-833