Sargut Şölçün: Entzauberte Nation. Literarische Entdeckung türkischer Mentalität. Duisburg 2008. 296 S.

Hätte die politische Korrektheit gesiegt, wären die hier vorgelegten Einsichten und Provokationen ungedruckt geblieben. Die »Mentalitätsforschung« nimmt sich heraus, in den Niederungen von Vorurteilen zu stöbern, auch wenn das für die Subjekte wie die Objekte solcher Beurteilungen peinlich wird. Der Autor, ein Ex-Türke, wenn es das gäbe, trägt zusammen, was in europäischen, überwiegend deutschsprachigen Reiseberichten und fiktionalisierten Auseinandersetzungen von 1841 bis heute die europäische Geistesart an der türkischen irritiert oder empört hat.

Das Paradox, ja der »Ausnahmezustand« erscheint als die geeignetste (Nicht-)Bewältigungsform dessen, was sich in der Türkei der letzten 200 Jahre ereignet hat. Die Gründe sind auch für westliche Augen erkennbar: die über tausendjährige Gewöhnung an den Islam (die vorislamische Vergangenheit kommt am Rande, nostalgisch, in den Blick), die stolze einstige Expansion der Türkei und der über 200-jährige schleichende Niedergang, schließlich die äußerliche, nur politisch-organisatorische Anlehnung an die westliche Zivilisation seit Atatürk, laut Ehrenburg durchaus eine »Revolution«, aber eine halbherzige, »kleinbürgerliche«. Şölçün fasst sie genauer: »die durch Islam und Chauvinismus verursachte Abkapselung, die mit der Öffnung des Landes zur westlichen Welt Hand in Hand geht« (128). Gewalt, militärische wie zivile, galt und gilt dort als A und O der Politik. Viele Türken wurden zu unerbittlichen Draufschlägern (Schreckgespenst: »die Janitscharen«; aktueller: die SA-ähnlich organisierten Grauen Wölfe), und die ganze türkische Gesellschaft lernte Gewalt hinzunehmen, wurde in ihrem Fatalismus »primitiv« und »subaltern«. Selbst die Fähigkeit zur Empathie mit anderen scheint beschädigt. In Exzessen wie der Ausrottung der Armenier, der Vertreibung der seit Jahrhunderten ansässigen und wohlgelittenen Griechen, der bis heute nicht unterbundenen Anwendung von Folter wirkt beides zusammen. Die Ausstoßungen haben auch das Land selbst geschädigt. Es verlor nicht nur begabte Teile seiner Bevölkerung (17), sondern es wurde und wird trotz seiner multiethnischen Besiedelung auf Homogenitätsvorstellungen eingeschworen, die ihm keinen inneren Frieden bringen und seine Zukunftstauglichkeit beschneiden. Die »grauenvolle Moral« (so Mede/Flock) im Umgang mit Frauen (nicht aus Übermut, sondern aus überspielter Ängstlichkeit der Männer erklärt) sowie in der Abrichtung von Kindern stößt selbst die Gutwilligen ab. Die mächtige Attraktion durch den geheimnisvollen urtümlichen, »vorzivilisierten« Orient macht bei näherer Bekanntschaft Widerwillen Platz. Noch als Immigranten befremden die Türken die deutsche Mehrheitsgesellschaft sowie alle anderen immigrierten Nationalitäten, weil sie sich abkapseln, in Rudeln auftreten und angeblich keinen Humor haben. Immerhin sollen die Türken auch Meister im Umgang mit der vorherrschenden Unsicherheit und Labilität sein, »Eulenspiegel« en gros (Koydl, 113). Als voll verstehbare Menschen erscheinen sie höchstens in hemmungslosen (wiederum kollektiven) Gesten und Lauten des Schmerzes (von der Grün, 264). Hoch ambivalent bleibt eine Erkenntnis, auf die der militärische Ausbilder Moltke vor 170 Jahren stieß und die er nicht wahrhaben wollte: Türken sind (waren?) schlechte Soldaten nicht, weil sie nicht töten, sondern weil sie nicht sterben wollen (34).
All diese Beobachtungen und Urteile verraten nach Şölçün die spezifi sch europäisch projizierende, aufbauschende und in jedem Fall enttäuschte Faszination durch das Fremde - nur dass durch diese Erkenntnis der Negativeindruck nicht verschwindet; Şölçün duldet auch keine ängstlichen Tabus. Er ist angetan von der Kraft der Imaginationen und unermüdlich im Nachweis von Missverständnissen. Den Militärausbilder Moltke wie den Orientreisenden Fallmerayer sieht er immer wieder blamiert durch ihre Voreiligkeit, den selbstverständlichen Eurozentrismus ihres Urteils. In den späteren Kapiteln hält er sich mit offenen Retourkutschen zurück, doch den gleichen relativierenden Effekt übernimmt seine souverän ausgespielte philologische Kompetenz. Jeder Bericht und jede »Entdeckung« spricht bei dieser Nahbetrachtung ebenso deutlich von der Subjektivität und den Interessen des Betrachters. In der »Entzauberung« der Türkei wirkt eine gehörige Portion Magie: Projektion, Beschwörung, Verwerfung; die Rede von »den« Türken tut ein Übriges. Auch die Relativierung wird wieder relativiert. Şölçün gewinnt der konstruktiven Kraft des Romans (und sogar des modernen »Märchens«), der »lyrischen« Selbstreflexion Wegners, »romantischen« Kommentaren und Einfärbungen (bei vielen Autoren) nicht weniger Erkenntnisse ab als den verführerisch »sachlichen« Berichten. Neben den weit variierenden, bis auf den Kern ihrer produktiven Kraft durchdrungenen literarischen Formungen arbeitet er mentale, psychische, physiologisch-habituelle, soziale Kodierungen der dargestellten Verhaltensweisen wie ihrer Wahrnehmung und Darstellung heraus. Wenn Hilsenraths »Märchen« das »Wesen der Türken« (partiell) als lächerlich und ekelhaft, unzivilisiert und grausam erscheinen lässt, sieht Şölçün die spezifi sche »Ästhetik des Hässlichen« bedient (212). Dabei gibt er vorsichtigen, nachdenklichen Stimmen (wie z.B. Frischmuth) mehr Gewicht als lauthals indignierten (wie Mede/Flock). Manchmal findet er die (vordringliche) Kritik an der türkischen Primitivität oder Barbarei verknüpft mit einer kritischen Sichtung der eigenen Seite und ihrer angeblich fortgeschrittenen Humanität. Werfel erklärt das geringe Interesse der europäischen Mächte für den Untergang der Armenier daraus, dass sie zu jener Zeit gerade mit einem eigenen Gemetzel beschäftigt waren: »›nicht mit dem harmlosen Blutdurst der Leidenschaftsbestie, sondern der mathematischen Gründlichkeit der Intelligenzbestie‹« (194).
Ihrem komplexen Charakter entsprechend organisiert Şölçün seine Befunde in einem verschränkten, schwer durchschaubaren Aufbau: Die versuchte Modernisierung (Kap. 2 und 4) streitet mit der vermeintlich überwundenen und mit der auf keine Weise zu leugnenden, fatalen Vergangenheit. Schließlich fi gurieren die drei Militärputsche unter »Türkische Arten der Öffnung zur Welt«. Seine Sätze sind höchst dynamisch: scheinbar nur zusehend, arglos oder spöttisch verwundert, aber dirigiert von der Hartnäckigkeit der Wiedervorlage und der unablässigen Korrektur. Seine Diktion ist markant, z.T. eigenwillig (fast natürlich, dass er auf Eingriffe etwa eines Lektors verzichtet hat). Şölçün fi ndet in seiner allmählich gewonnenen »Außenperspektive« die »lukrativste Errungenschaft des Lebens im Ausland« (7f); das gilt ebenso für seinen Arbeits- und Sprachstil. Einen Einwand provoziert die defätistische Durchstrukturierung seiner Erkenntnisse: Ist nicht auch die Türkei einer unaufhaltsamen Veränderung sämtlicher Lebensstrukturen, also schließlich auch ihrer Mentalität ausgesetzt? Şölçün verbannt diese Frage nicht ganz. Er insistiert aber darauf, dass die laufende fremdbestimmte Modernisierung, seitdem sie vor 90 Jahren mit Macht angestoßen und in diversen Wellen forciert wurde, so viel an Trotz und Abwehrreaktionen, an Ranküne und Abhärtung, an scheinbarer und  mutwillig-äußerlicher Anpassung produziert hat, dass wenigstens auf dem gleichen Wege, in der gleichen Konfrontation zwischen »Türkisch« und »Europäisch« ein Wechsel der Einstellung nirgends in Sicht ist.
Gerhard Bauer

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, Heft 4, S. 971-972