Jessé Souza: Die Naturalisierung der Ungleichheit. Ein neues Verständnis peripherer Gesellschaften. Wiesbaden 2008. 184 S.

So viel vorweg: Der Autor hat ein lesenswertes, äußerst interessantes und sehr vielschichtiges Buch geschrieben, das lohnt, breiter rezipiert zu werden. Die Studie basiert auf seiner Habilitationsschrift und unternimmt den ehrgeizigen Versuch, eine eigenständige (Gesellschafts-)Theorie sozialer Ungleichheit in peripheren Gesellschaften zu entwickeln. Wie der Titel schon andeutet, spielt dabei das Phänomen einer Naturalisierung sozialer Ungleichheiten als theoretischer Kristallisationspunkt eine besonders bedeutsame Rolle: „Ich will versuchen zu zeigen, wie die Naturalisierung der sozialen Ungleichheit in peripheren Ländern rezenter Modernisierung wie Brasilien angemessener erfasst werden kann als Folge nicht eines vermeintlich prämodernen und personalistischen Erbes, sondern genau im Gegenteil als Ergebnis eines effektiven Modernisierungsprozesses großen Ausmaßes, der das Land seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts überfällt.“ (S. 22)

Das Buch umfasst 11 Kapitel, die in drei Teile untergliedert sind. Im ersten Teil findet sich eine informierte Auseinandersetzung mit den Theorien von Charles Taylor (Kap. I) und Pierre Bourdieu (Kap. II). Taylors Anerkennungstheorie wird mit dem Ziel angeeignet, die sozialen Vorbedingungen der Naturalisierung von sozialer Ungleichheit in peripheren Ländern aufzuhellen (vgl. S. 26). Zentrales Motiv der Theorierekonstruktion ist dabei, dass Naturalisierungen sozialer Realität mit kulturellem Sinn und moralischer Relevanz verbunden sind, die Taylor durch seine Genealogie der Wertehierarchie der Spätmoderne sichtbar machen kann (vgl. S. 41). An die Seite der Taylor’schen politischen Theorie wird in einem zweiten Schritt die Sozialtheorie Pierre Bourdieus gestellt, die anders als Taylor Phänomene der Legitimation sozialer Ungleichheit ins Zentrum stellt, die bei Taylor gerade fehlen. Bourdieu liefert den theoretischen Rahmen, um die Naturalisierung von sozialer Ungleichheit mehrdimensional zu konzeptionalisieren: zum einen als individuelle Inkorporierung sozialer Strukturen, wie sie durch das Habituskonzept ausgedrückt wird, zum anderen als Legitimation kultureller Willkür, mit der die herrschenden Klassen die sie privilegierenden sozialen Strukturen und Institutionen als etwas Natürliches in den Köpfen der Beherrschten etablieren (vgl. S. 55). In Kapitel III werden dann die Ansätze von Taylor und Bourdieu direkter aufeinander bezogen. Dabei wird Taylor als derjenige Denker präsentiert, dem es durch seine Arbeiten gelingt, die kulturellen und historischen Institutionen und funktionalistischen Imperative von Staat und Markt, die genau so natürlich erscheinen wie das Atmen oder das Sprechen, zu re-sinifizieren, zu re-kulturalisieren und damit wieder als gestaltbare gesellschaftliche Größen zu konzeptionalisieren (vgl. S. 68f). Bei aller Stärke Taylors verbindet er Jessé Souza zufolge seine Theorien zu wenig mit ungleichheitsbezogenen Kämpfen um knappe Ressourcen, sondern bleibt am Ende selbst in einer modernisierungstheoretischen Betrachtung gefangen. Bourdieu ist hingegen nach Souza einerseits in der Lage, die spontane Ideologie des Spätkapitalismus im Kontext von sozialen Klassenkämpfen um die legitime Sicht auf die Welt abzubilden, ist aber auf der anderen Seite wieder durch Taylor zu ergänzen, wenn es darum geht, universelle Normen zu begründen, mit denen die sozialen Ungleichheitsverhältnisse und kulturellen Klassenkämpfe auch normativ beurteilt werden können (S. 82ff). Der ganze erste Teil liefert eine sorgfältige  Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Taylor und Bourdieu, die nicht auf die bloße Rekonstruktion beider Theoretiker beschränkt bleibt, sondern eine differenzierte und eigenständige Aneignung darstellt. Zuweilen gerät der Text allerdings zu dicht und der Argumentationsverlauf ist dadurch nicht immer leicht zugänglich (etwa S. 28ff).
Im zweiten Teil der Studie wird die „Konstituierung der peripheren Moderne“ entlang sozialhistorischer Ungleichheitsstudien von der historischen Periode der Sklaverei und des Kolonialismus bis hin zum frühen zwanzigsten Jahrhundert untersucht. Denn die Ansätze
von Taylor und Bourdieu reichen zur Analyse der Naturalisierung von Ungleichheitsverhältnissen im Zentrum und insbesondere an der Peripherie nicht hin. Souzas Ausgangsüberlegung lautet: „Wenn lediglich Staat und Markt ohne  jegliche Hemmnisse als strukturierende Institutionen der sozialen Dynamik agieren würden, wären die Unterschiede zwischen den Gesellschaften, sowohl zwischen den zentralen Gesellschaften untereinander als auch zwischen ihnen und den peripheren minimal.“ (S. 87) Dieser Teil liefert nicht nur eine Fallstudie der sozialgeschichtlichen Modernisierung Brasiliens, sondern vermittelt auch einen guten Einblick in wichtige zeitgenössische Studien der brasilianischen Soziologie.
Im Kapitel I des zweiten Teils geht es zunächst darum, das „‘soziologische[n] Märchen’ des ewig fortdauernden Einflusses der Vormoderne“ (S. 92) im Sinne eines spezifischen Wertehorizontes fundamental zu kritisieren. Diese Argumentationsfigur muss bis heute dafür herhalten, dass Länder aus der Peripherie nicht denselben Reichtum, dieselben Alphabetisierungsquoten oder dieselbe Infrastruktur aufbieten können wie westliche Industrienationen, weil eben noch immer vormoderne, archaische Verhaltensmuster die Umsetzung westlicher Rationalitätskriterien unterlaufen.
Nach dieser Kritik setzt sich Souza in einem weiteren Kapitel mit den Arbeiten von Gilberto Freyre, einem der bekanntesten brasilianischen Soziologen und Anthropologen des Zwanzigsten Jahrhunderts, auseinander, insbesondere mit seinen Studien über die Sklaverei, den Patriachalismus und den Personalismus in Brasilien. Der für Brasilien charakteristische Personalismus, also die direkte personale Abhängigkeitsbeziehung zwischen Personen im Zusammenspiel von Patriachalismus und Sklaverei führt nach Souzas Reinterpretation der Arbeiten von Freyre und (im weiteren Verlauf) von Maria Sylvia de Carvalho Franco zu der These, dass der Personalismus weit über die Beziehung zwischen Sklavenhalter und Sklaven hinaus zu einem Strukturmerkmal der brasilianischen Gesellschaft avanciert ist, das sich bis heute durchzieht. „Der strukturelle Stellenwert des Systems der Sklaverei, sowohl im sozialen wie im ökonomischen Sinn, warf seinen Schatten auf alle anderen sozialen Beziehungen. Dies gilt insbesondere für eine andere soziale Schicht, die im kolonialen Brasilien fundamental und zahlreich ist […] und die aus den ‘Dependentes’ [Abhängigen] oder ‘Agregados’ [Beigesellten] besteht, die formal frei und von jeder  Hautfarbe sind.“ (S. 114f) Die persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den formal freien Abhängigen und den Patrons (oder zwischen ähnlichen Sozialbeziehungen) erscheinen dabei allen Beteiligten im Modus der Freiwilligkeit. An diese Vorstellungswelt angekoppelt wird eine doppelte Naturalisierung: Erstens, eine Naturalisierung der unterschiedlichen sozialen Positionen, eines oben und unten; zweitens die Kopplung der sozialen Position mit Hautfarbe. Denn die Patrons waren „weiß“ und die „Dependentes“ waren dunkelhäutig. Dieses Muster der doppelten Naturalisierung wird im anschließenden dritten Kapitel des zweitens Teils weitergeführt. Auf der Grundlage einer Untersuchung von Florestan Fernandes kann Souza zeigen, dass im Neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhundert die Ausdifferenzierung der Sozialstruktur mit dieser Form der Naturalisierung sozialer Ungleichheiten einherging. Im Zuge des relativen Bedeutungsverlusts der polaren sozialen Positionen erstarkte eine bürgerlich-brasilianische Mittelschicht, die sich fast ausschließlich aus Mestizen zusammensetzte: „Mestizen, die keine andere Erwerbsquelle besitzen als ihre Bereitschaft und Geschicklichkeit zum Erlernen der neuen Handwerksberufe und die […] in jener sich verändernden Gesellschaft zu einem Element wurden, das am typischsten einen bürgerlichen Charakter aufwies: ein mittelständiges Element, in Form einer ‘mittleren Rasse’.“ (S. 135)
Doch die hier aufgebaute Argumentation einer starken Kopplung von Hautfarbe und Sozialstruktur in dem Sinne, dass die Hautfarbe oder die „Rasse“ die Sozialposition erklärt, wird im dritten Teil des Buches, in dem der Weg von der Brasilianischen Revolution 1930 bis zur Gegenwart beschritten wird, relativiert und noch einmal komplexer gewendet. Zur Analyse des Zusammenhangs von sozialer Position und Hautfarbe wird im ersten Kapitel des dritten Teils von Souza noch einmal das Habituskonzept von Bourdieu herangezogen mit der Idee, „die Verwechslung und Vermengung von ‘Habitus’ und Hautfarbe zu überwinden“ (S. 154). Die vehemente Modernisierung Brasiliens, die Ende des Neunzehnten Jahrhunderts einsetzt und bis zur 1930er-Revolution reicht, setzt an mit der Abschaffung der Sklaverei und der parallelen Einführung einer starken Wettbewerbsgesellschaft, in der die ehemaligen Sklaven sich weitestgehend selbst überlassen blieben. So waren sie sogar schlechter für diese Gesellschaft gerüstet als europäische Einwanderer, von denen sie schnell an die Ränder der lukrativen Arbeitsmärkte gedrängt und sozial ausgegrenzt werden. Unter Rückgriff auf eine Studie über die Integration von dunkelhäutigen Menschen in die Klassengesellschaft von Fernandes kann Souza Integrationsschwierigkeiten an die nunmehr kompetitive Ordnung belegen und verortet diese Schwierigkeiten entlang von psycho-sozialen Persönlichkeitsbedingungen wie der Unangepasstheit der Schwarzen an die freie Arbeit und der „Unfähigkeit gemäß den Verhaltens- und Persönlichkeitsmodellen der Wettbewerbsgesellschaft zu handeln“ (S. 147). Diese sozialen Charakteristika verdichten sich zu einem sozialen Klassenhabitus, der präziser als der Verweis auf die Hautfarbe die Produktion und Reproduktion der Marginalität der Schwarzen in Brasilien erklären können soll. Denn der Marginalisierung und sozialen Ausgrenzung zu Grunde liegt ein „Prozess der Aneignung von kognitiven und wertenden Schemata, die im familiären Umfeld von frühester Kindheit an in vor-reflexiver und automatischer Weise vermittelt und verinnerlicht“ wird (S. 150). Dieser „prekäre Habitus“ „ist von zentraler Bedeutung, denn wenn die Reproduktion eines ‘prekären Habitus’ der letzte Grund für die Unangepasstheit und Marginalisierung dieser Gruppen ist, so ist es nicht ‘lediglich die Hautfarbe’, wie gewisse empirizistische Tendenzen hinsichtlich der Ungleichheit in Brasilien heute nahe legen. Wenn es in diesem Bereich Vorurteile gibt, und es gibt sie zweifellos und sie wirken in verdeckter und virulenter Weise, so sind es in erster Hinsicht nicht Vorurteile gegenüber der Hautfarbe, sondern vielmehr Vorurteile, die sich auf einen ganz bestimmten Typ von ‘Persönlichkeit’ beziehen, der für die Gesamtgesellschaft als unproduktiv und zersetzend angesehen wird“ (Ebd.).
Diese argumentative Zentralfigur, dass der Klassenhabitus und die habitusspezifischen sozialisatorischen Reproduktionsmechanismen bestimmender sind für soziale Ungleichheiten in peripheren Gesellschaften als der Verweis auf die Hautfarbe, löst den ambitionierten Untertitel eines neuen Paradigmas zum Verständnis peripherer Gesellschaften zumindest ein Stück weit ein. Die Naturalisierung von Ungleichheiten entlang der spezifi schen Dimension der „Rasse“ oder Ethnizität oder Hautfarbe wäre dann das spezielle Moment, in dem periphere Gesellschaften sich von den Ungleichheitsregimen der westlichen Industriegesellschaften unterscheiden, deren Naturalisierungsformen anderen Argumentationslinien folgen. Souzas Studie liefert eine große Anzahl von interessanten Aspekten, die hier nicht alle vorgestellt werden konnten. Beeindruckend ist, dass sich der Autor auf den Weg macht, Gesellschaftstheorie zu betreiben um entlang der Analyse der brasilianischen Gesellschaften wieder an eine wichtige soziologische Einsicht zu erinnern: „Es gibt […] menschlichere und gerechtere Gesellschaften als andere und es ist eine grundlegende Aufgabe der Gesellschaftskritik, die Gründe für diese Unterschiede zu erörtern.“ (S. 14) Allein in diesem Sinne ist die Studie ein Gewinn.
Uwe H. Bittlingmayer

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 116, S. 140-143