Anne Becker u.a. (Hg.): Verhandlungssache Mexiko Stadt. Umkämpfte Räume, Stadtaneignungen, imaginarios urbanos. Berlin 2008. 352 S.
Der Umschlag versammelt eine Collage fotographierter Stadtansichten, innen sind die Autoren entsprechend ihrer Themen in der Stadtkarte der Zona Metropolitana Ciudad de México (ZMCM) platziert. Dem entspricht der Gegenstand des Buches: die soziale Geographie des urbanen Raums, dargestellt in seinen verschiedenen Alltagswelten und aus verschiedenen Perspektiven.
Mexiko-Stadt diente vielfach als das klassisches Beispiel der »megacity«. Aber nicht die Einwohnerzahl, sondern die Bedeutung im globalisierten Waren-, Finanz- und Tourismusverkehr steht für qualitative makroperspektivische Ansätze der Stadtforschung im Vordergrund. Entscheidend für Mexikos Aufstieg zur Global City war die neoliberale Öffnung des Marktes seit dem Staatsbankrott 1982. Die lateinamerikanische Perspektive fordert darüber hinaus, so die Kritik der Hg., den Blick auf lokale Prozesse und damit die Analyse von Mikroräumen. Der »megacity«-Diskurs habe zwar ein »materielles Substrat« (12) in der global zu beobachtenden Tendenz zur Verstädterung, sei jedoch »analytisch weitgehend leer« (11). Zum einen verdecke er die jeweilige Spezifik der urbanen Entitäten, zum andern reflektiere der Begriff nicht auf die ihm zugrunde liegenden geopolitischen Dualismen von Nord/Süd und Reich/Arm. »Denn urbaner Wandel wird von Menschen täglich gemacht, ist gesellschaftlich umkämpft und fast immer Produkt vielfältiger ›Aushandlungsprozesse‹.« (12) Der Ausdruck »Verhandlungssache « im Titel verweist auf ein Strukturprinzip, das die vielfältigen Perspektiven auf die Stadt im sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bereich konzentriert. Wer das Recht auf die Stadt hat, zeigt sich in unendlich vielen, formellen und informellen Verhandlungen um die Aneignung und die Gestaltung der Alltagswelt. Widerstände gegen Gentrifi zierung, Folgen der Marktliberalisierung und Strukturanpassungsmaßnahmen sollen durch die Beiträge beschrieben werden. Deutlich wird die Heterogenität und Fragmentierung der Stadt, die, obwohl sie gemeinsame »imaginarios« einer geteilten Erfahrung ermöglicht, unterschiedlich erlebt wird.
Die Aufsätze reichen von diskursanalytischen Untersuchungen von Bezeichnungen für Mexiko-Stadt in Alltag und Literatur (Juan Villoro) oder »dem Weiblichen« im öffentlichen Leben (Anne Huffschmid) bis zu einer Fotodokumentation über den »chilango« (Hauptstadtbewohner) beim Tacoessen (Benedikt Fahlbusch). Markus-Michael Müller zeigt, wie politische Prozesse durch partikuläre und fragmentierte Teilhabe geprägt sind. Sicherheit bleibt ein ungleich verteiltes, an den ökonomischen Status der Adressaten gebundenes Gut. Auch fehlt es nicht an Studien zu städtebaulich manifestierter Segregation (Anne Doose, Alexander Jachnow), einer historischen Bilanz über die Kontinuität der Verflechtung von Guerilla-Bekämpfung, Polizeiapparat und organisiertem Verbrechen (Anne Becker) sowie Berichten über Produktpiraterie und das Leben als Müllsammler. Besonders eindrucksvoll ist Marianna Poppitz’ Feldtagebuch über »vecindades« im historischen Zentrum der Stadt. »Vecindad« bezeichnet sowohl eine sich im 19./20. Jh. bildende Lebensform als auch das Haus, das sie beherbergt. In Form eines Comics stellt Verf. die Schwierigkeiten in der Aushandlung zwischen individueller Lebensführung als Straßenhändler und kollektiver Bewältigung von Problemen »zwischen Besetzung, Aneignung und Verfall« der alten Häuser dar (104).
Den Autoren fehlt zuweilen die Reflexion auf die eigenen Standpunkte. Die Selbsteinschreibungen in die Entwicklung des urbanen Mexikos lassen sie vergessen, dass sie Teil eines globalisierten Städtenetzes sind, sei es über die Anwesenheit europäischer Feldforscher in Mexiko, über die Durchführung internationaler Konferenzen zum Thema oder auch über die Einbindung der Stadt in einen transnationalen Warenverkehr. Im Sinne einer solchen Kontextualisierung wären Untersuchungen zum Einfluss des globalen Immobilienmarktes auf den Städtebau, zu regionalspezifischen Trends der Versicherheitlichung in ateinamerikanischen Großstädten oder auch zum weltweit beobachtbaren Phänomen der Gentrifizierung gewesen. Schließlich hätte auch die forschungsleitende Frage nach politischen Strukturen und Kulturen des Aushandelns stärker am regionalen und globalen Umfeld beantwortet werden müssen. Allein der Aufsatz von Katrin Wildner greift diese Kritik auf. Ihrer Beobachtung nach wandelten sich Studien über die Stadt mit dieser selbst und würden folglich Teil des Diskurses. »Um dem ›Pulsschlag‹ des Urbanen gerecht zu werden, müssen die Perspektiven und Lektüren der Mikroebene der lokalen Orte mit der Makroebene des globalen Gesamtkontextes der Stadt in einer eigenen Art von interdisziplinärem ›Hypertext‹ kombiniert werden.« (332)
Frank Müller