Gregor Bongaerts: Verdrängungen des Ökonomischen. Bourdieus Theorie der Moderne. Bielefeld 2008. 382 S.
Moderne Gesellschaften sind funktional differenziert in Teilbereiche, die sich im Austausch von Leistungen gegenseitig sowie das Gesamtsystem am Leben erhalten. Doch drückt sich die Disziplin damit vor der Problematisierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung und ökonomischer Besitzverhältnisse, die nur als Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften adäquat analysiert werden können. Mit Bourdieus Theorie sozialer Felder will Verf. »eine weitere um das Thema Differenzierung gearbeitete Beobachtung der Moderne« vorstellen (253).
Den Begriff des sozialen Feldes entwickelt Verf. ausgehend von der »allgemeinen Ökonomie der Praxis« (24), eine spezifische Logik im Umgang mit Zeit, eine Ökonomie der Handlungen, ohne dass es sich um ökonomische Handlungen i.e.S. handelt und ohne dass die Akteure einem bewussten Kalkül folgen. Auch kulturelles, symbolisches oder politisches Kapital wird akkumuliert, investiert etc. Ein Grundzug von Bourdieus Theorie ist die Bestimmung sozialer Praxis im Verhältnis von Habitus und Feld: die in einem bestimmten Milieu erworbenen Dispositionen der Akteure kommen unter bestimmten institutionellen Bedingungen und im Rahmen bestimmter Opportunitätsstrukturen zur ›Anwendung‹. Im Modell des sozialen Raumes schließlich verdeutlicht Bourdieu den Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit über (ökonomisches und kulturelles) Kapital, (Berufs-)Position und habitusvermitteltem Lebensstil.
Die Rekonstruktion der Theoriearchitektur nimmt fast zwei Drittel des Buches in Anspruch. Originell ist dabei das Leitmotiv: mit dem Konzept symbolischer Gewalt habe Bourdieu sein gesamtes Werk auf einen zentralen »Fluchtpunkt« hin ausgerichtet. Diese Form der Machtausübung »findet sich in der Logik der Verdrängung wieder. Soziale Praxis, die soziale Ordnung reproduziert, funktioniert nur, wenn sie in Form der Notwendigkeit auftritt, das heißt, wenn die Akteure selbstverständlich an sie und ihre Selbstverständlichkeit glauben und diese damit anerkennen.« (42)
Fast schon kanonisch steht hierfür das Beispiel des Gabentauschs, das auch Verf. bemüht: Auf der Ebene der symbolischen Ordnung ist die Gabe uneigennützig. Und sie muss es sein, denn praktische Reziprozität – auf jedes Geschenk unmittelbar mit einem Gegengeschenk zu reagieren – würde die Interaktion zerstören. Auch wenn die symbolische Überformung wirtschaftlicher Praktiken in modernen Gesellschaften zurücktritt, sind Verdrängungen des Ökonomischen für die verschiedenen sozialen Felder konstitutiv. Verf. systematisiert drei Formen: 1. Verdrängung der Produktionsweise als Bedingung der Feldpraxis; 2. »Verdrängung der je spezifi schen Ökonomie der Felder in den Selbstbeschreibungen« (l’art pour l’art, ›Kraft des besseren Arguments‹ etc.); 3. Verdrängung, dass die Zugehörigkeit zum Feld an die Herkunftsposition in der Klassenhierarchie gebunden ist (344f).
Invariante Merkmale und Mechanismen sozialer Felder arbeitet Verf. anhand der Analyse des religiösen Feldes heraus, die für Bourdieu eine exemplarische Rolle gespielt habe. Für jedes soziale Feld lassen sich Konflikte unter den Produzenten (hier: Priester, Propheten, Zauberer) und in ihrem Verhältnis zum Laienpublikum (Gläubige) analysieren, die sowohl die relative Autonomie als auch die spezifische Ökonomie des Feldes verdeutlichen: Kämpfe um die Deutung der Heilslehre, Regeln des Feldes (»nomos«) und affektive Besetzung der Praxis im Feld (»illusio«). Auf dieser Grundlage ließen sich Homologien zwischen Feldpositionen und Platzierung im sozialen Raum ermitteln. Das so gewonnene Raster leitet die »Analyse der materialen Studien von Bourdieu zum Zweck der Extraktion einer Theorie der Moderne als Differenzierungstheorie« (145) an. Das (Meta-)Feld der Macht bilde hierfür den »Schlüssel«, da es Differenz und Abhängigkeit der einzelnen sozialen Felder zu erfassen erlaube. Es wandelte sich vom dynastischen zum bürokratischen Staat und ist durch Akkumulation von »Ernennungsmacht« für den Kampf um die relative Gewichtung der Kapitalsorten entscheidend. Quer durch den sozialen Raum, vom Pol des kulturellen zum Pol des ökonomischen Kapitals, analysiert Verf. das Feld der Kunst, juristisches und politisches Feld, Journalismus und Ökonomie.
Das synthetisierende Kapitel zur »Theorie sozialer Felder im Kontext des Diskurses der Differenzierungstheorie(n)« (303ff) setzt an mit dem Versuch, »fünf seit den Klassikern immer wiederkehrende Problembereiche« (239) im Werk Bourdieus ausfindig zu machen: das Ganze der Gesellschaft, den Unterschied von Moderne und Vormoderne, die Verhältnisse von Differenzierung und Integration, Differenzierung und Individualisierung, Reproduktion und Wandel. Verf. muss feststellen, dass, während Durkheim, Luhmann, Habermas, Parsons u.a. einen gemeinsamen Problembereich umkreisen, »nahezu keines der Probleme von Bourdieu in der Form gestellt worden ist, wie es im differenzierungstheoretischen Diskurs sonst üblich ist« (355f). Das sei einerseits ein Nachteil, denn die gängige Differenzierungstheorie könne das Verhältnis von Differenzierung und Integration selbst auf globaler Ebene konsistent denken, während es bei Bourdieu kein entsprechendes Äquivalent gäbe. Doch mache der Kontrast auch Bourdieus eigenständigen, immer auf konkrete Verhältnisse bezogenen Beitrag zur Differenzierungstheorie deutlich. Habituelles und implizites Wissens leiste einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis von gesellschaftlicher Integration, weil es selbst die härtesten Konkurrenten im sozialen Feld bindet. Das hätten Luhmann & Co. ebenso wenig im Blick wie die Verdrängungen des Ökonomischen und die Kontinuität der vermeintlich vormodernen Positionierung von Akteuren qua sozialer Herkunft.
Die Beschränkung auf den theoretischen Diskurs gesellschaftlicher Differenzierung engt die Spielräume sowohl für substanzielle Forschungsergebnisse als auch für emanzipationstheoretische Überlegungen ein. Der mehrfach wiederkehrende Hinweis auf ausstehende empirische Forschungen wirkt wie eine unfreiwillige Immunisierungsstrategie. Darüber hinaus ist es unangebracht, zeitdiagnostische Aspekte weitgehend außer Acht zu lassen – ein engagierter Autor wie Bourdieu hat mit Luhmanns Spott über den Moralismus sozialer Bewegungen jedenfalls nichts gemein.
Peter Bescherer