Rainer Rilling: Risse im Empire. Berlin 2008. 180 S.
Die Rückkehr des Neoliberalismus zu seinen gewaltförmigen Ursprüngen bildete den Hintergrund einer intensiv geführten neuen Imperialismusdebatte, die sich an der Außenpolitik der Bush-Administration entzündete. Neu an ihr war, dass sie den Begriff des Imperiums ins Zentrum rückte. Dabei profitierte die affirmative Bezugnahme auf die imperiale Politik von der Kooptation der Neuen Linken durch den Neoliberalismus, da die Menschenrechtsdiskurse aus den neuen sozialen Bewegungen im Zusammenspiel mit unattraktiven Formen peripheren Antiimperialismus sich gut für die neue koloniale Herrenperspektive eigneten.
Die Impulse aus der neuen Imperialismusdebatte gerieten teilweise in Vergessenheit, als in der Konsequenz von antiimperialistischem Widerstand im Irak und Hurrikan Katrina die US-Heimatfront bröckelte und es zu einem Regierungswechsel kam. Rillings Buch ruft ins Gedächtnis, dass die erneuerte Imperialismustheorie nicht erst mit dem Krieg als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln greift, sondern vielmehr die allgemeine Frage nach der politischen Steuerung transnational(isiert)er Vergesellschaftungsprozesse in einem kapitalistischen Staatensystem, der »kontingenten und widersprüchlichen Beziehung zwischen formeller politischer Herrschaft und informeller ökonomischer Kontrolle« (67), aufwirft und damit auch ›after Bush‹ nichts an Relevanz eingebüßt hat – im Gegenteil.
Als ausgewiesener Kenner der inneren Verhältnisse der US-Gesellschaft und ausgehend von der Maxime, ›Außenpolitik‹ stets aus den inneren Widerspruchskonstellationen sozialer Formationen heraus zu erklären, beschreibt Rilling die USA als erstes modernes Imperium. Seine Spezifik, ein Imperium ohne Kolonien, ein informelles Imperium zu sein, resultiert aus der konkreten Sonderweggeschichte der USA als dem einzigen fortgeschritten kapitalistischen Land ohne eine unabhängige politische Formation der Arbeiterbewegung. Die Entstehung einer »die subalternen Klassen politisch demobilisierenden Marktgesellschaft« (48) ist Bedingung der Flexibilität und der Handlungsspielräume des US-Staates. Gleichzeitig dekonstruiert Rilling den die US-Politik legitimierenden Mythos der formell-imperialistischen Unbeflecktheit der USA: Die erste Phase der inneren Landnahme bis zur Schließung der Open Frontier ist selbst die Geschichte eines gigantischen »modern-kolonialen Territorialimperiums« (49). Da hiernach ein formelles Imperium aus politischen, ökonomischen, ideologischen und auch geographischen Gründen als Option ausfiel, entstand Ende des 19. Jh. mit der Schlüsselidee der Open Door zunächst eine Raumordnung mit einer »merkwürdigen Elastizität und Dehnbarkeit « (Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1988, 191), mit der die USA der theoretisch grenzenlosen Machtprojektion die Bahn ebneten. Nicht mehr der Raum selbst, sondern die Kontrolle über diesen und seine Grenzen vermittels diverser Machtressourcen – »Kapital, Recht, Kultur, Gewalt« (45) – stehen im Mittelpunkt. Gegenüber der »strukturellen Instabilität imperialer Grenzprojekte« erwies sich »diese amerikanische Form der postterritorialen Imperialität [...] als die bestandsfähigste [...] Ordnungsform des letzten Jahrhunderts« (53). Aus den Auseinandersetzungen mit dem sowjetischen und deutschfaschistischen Imperiumstyp ging sie siegreich hervor: Die »wesentliche räumliche Form der Imperialität in der Gegenwart ist die postterritoriale des informellen Empire, bei der die Kapitallogik über die Territoriallogik triumphiert und ›der Markt die Macht bestimmt‹« (ebd.).
Die Stärke dieser Theorie liegt in einer Verknüpfung der ›außenpolitischen‹ Dimension mit einer Theorie der politisch konstituierten Gesellschaft. Denn für die Durchdringung anderer Staats-Zivilgesellschafts-Komplexe ist nicht etwa eine black box Staat verantwortlich, sondern das politisch eingerahmte Handeln ›individueller‹ Kapitalakteure. Durch ausländische Direktinvestitionen ist es die grenzüberschreitende Kapitalakkumulation selbst, die mit der staatstheoretisch relevanten Umwälzung der internen Klassen- und Hegemonieverhältnisse zwischenimperialistische Reibungen abschleift und dem liberalen Imperium Stabilität verschafft. Im Zuge der beschleunigten transnationalen Vergesellschaftung beinhaltet sie allerdings auch die Tendenz zur ständigen Krise. Denn auch das postterritoriale Imperium ist nicht postmodern-immateriell: Das Potenzial zum drohenden »imperial overstretch« schlummert in den Militärbasen, welche die USA in weit über der Hälfte der Länder der Erde unterhalten. Zum ersten Mal bemerkbar macht sich die Doppelbelastung des »Welfare-Warfare-Modells« (64) in den 1970er Jahren. Das Projekt der neoliberalen Globalisierung erweist sich für die USA und ihre transnational orientierten Kapitalverbündeten als Jungbrunnen. Hinzu kommt die konkrete geoökonomisch-geopolitische Geschichte. Dass diese Krise für das postterritoriale US-Imperium beherrschbar war, ist auch Ergebnis des US-Protektoratssystems, in dem die USA »nach 1945 nicht nur einfach die größte Macht unter den großen Mächten« waren, sondern sie »auch den Kern des kapitalistischen Weltsystems (dominierten)« (62).
Rilling überzeugt durch die langfristige Anlage seines Buches. Der hektischen Überzeichnung der Brüche zwischen Clinton-, Bush- und Obama-Administration setzt es die sorgfältige Beobachtung von Langzeittrends entgegen: die Entstehung eines liberal-imperialistischen »Grundkonsenses« (86), der einer Amalgamierung des liberalen Internationalismus mit der konservativen Realismusschule zum »neoconservatism« entspringt. »Der häufige Vergleich Bushs mit [...] dem ›Wilsonianismus‹ [...] ist nur durch diesen Grundkonsens zu erklären.« (86) Die Bush-Administration ist somit nur die Spitze eines nach 1989/91 entstandenen »rechtsimperialen Projekts«, das ein Ausdruck für die Rechtsverschiebung »im Kampf um die Beantwortung [der] Schlüsselfragen« hinsichtlich der Aussichten amerikanischer Machtprojektion unter den Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus mit neuen Raummächten und ohne die stabilisierende Funktion der Sicherheitsarchitektur des Kalten Krieges sei (79).
Die Risse im Empire ergeben sich aus den Widersprüchen dieser Konstellation, die Ausdruck einer »qualitativ neuen Problemstellung« ist (81). Rillings These läuft darauf hinaus, dass sich die USA zu Tode gesiegt haben könnten: »in der unipolar gewordenen Situation nach 1989 geht es für die USA nicht mehr nur um ›Abschreckung‹ eines Konkurrenten, Gegners oder Feindes, sondern darum, durch Blockade, Inklusion oder präventive Intervention bereits im Ansatz die Entstehung einer Situation der Konkurrenz selbst zu verhindern [...]. Die Durchsetzung eines planetaren [...] Musters amerikaaffinen oder amerikaähnlichen Kapitalismus ist die einzige Methode, auf Dauer Konkurrenz, aber auch Terrorismus auszuschalten.« (80) Die weitgehende Fortführung von Bushs Außenpolitik durch Obama mag mit dem Rüstzeug einer solchen Theorie langer Imperiumswellen kaum verwundern. Sie trägt Sorge, dass das Sein, nicht das Design, das Bewusstsein bestimmt.
Ingar Solty